Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es gewesen sein mußte, aber ihre Phantasie reichte nicht, es in Bilder umzusetzen. Der Kampf mußte entsetzlich gewesen sein und von vornherein aussichtslos. Sie hatte gesehen, wie schnell und rücksichtslos dieses Ding zuschlug, draußen im Sumpf unter dem Wald, und hier mußte es schlimmer gewesen sein, tausendfach schlimmer.
»Was hast du mit Tally getan?« flüsterte sie.
»Nichts«, antwortete das entsetzliche Wesen. »Es war ihr eigener Wunsch.«
»Ihr -«
»Sssie wollte esss«, mischte sich Hrhon ein. Angella drehte sich verblüfft herum und starrt den Waga an.
»Sie wollte was? keuchte sie. »Das hier?!«
Hrhon versuchte ein menschliches Nicken nachzuahmen. »Sssie whussste esss«, behauptete er. »Sssie sssagte esss mir, in der Nacht, bhevhor sssie sssich Jandhi erghab. Dher Ssschlund vherlanghte ein Ohpfer, uhnd sssie whollte nisst, dasss isss es bin. Oder dhu.«
Angella stand wie gelähmt da. »Sie hat es... freiwillig getan?« murmelte sie. »Sie ... sie hat dieses - ... dieses Ding absichtlich hierher gebracht?«
»Einen Teil«, bestätigte Tally. »Das Ganze ist im kleinsten meiner Teile, so wie der geringste meiner Teile das Ganze ist. Du trauerst um sie, Angella, aber das ist nicht nötig. Tally lebt, wenn auch auf andere Weise.«
»Oh ja«, sagte Angella. »Gleich wirst du mir erzählen, daß sie die Unsterblichkeit erlangt hat, wie?«
Ihr Spott prallte von dem Wesen an ihrer Seite ab, weil es so etwas wie Spott oder Sarkasmus nicht kannte. Es nickte.
»In gewisser Weise, ja. Tally wußte, was sie erwartete. Sie wurde nicht gezwungen. Das Wesen, das ihr Gäa nennt, mag euch grausam erscheinen, aber es ist es nicht. Nur erbarmungslos. Und auch das nur zu seinen Feinden. Den Feinden des Lebens.«
»Und wir?« flüsterte Angella. »Gehören wir... auch dazu? Willst du Hrhon und mir auch die Unsterblichkeit verleihen?«
»Wenn ihr es wünscht, wird Tally es tun«, antwortete Tally mit großem Ernst. »Doch wenn ihr es nicht wünscht, könnt ihr gehen. Ihr seid frei. Tally wird euch den Weg zeigen, wie ihr von hier entkommen könnt. Wenn ihr bereit seid, den Kampf fortzuführen.«
»Welchen Kampf?« flüsterte Angella. »Hier... hier lebt doch nichts mehr!«
»Hier nicht«, bestätigte Tally. »Dieser Ort gehört jetzt mir, und so wird es auf ewig bleiben. Aber es gibt viele Orte wie diese.«
Angella erschrak. »Soll das heißen, es ist noch nicht vorbei?« keuchte sie.
»Esss hat noch nissst einmal rissstig beghonnen«, zischte Hrhon.
»Der Waga wird dir die Geschichte erzählen, die er von Tally hörte«, sagte Tally. »Doch jetzt müßt ihr gehen. Rasch, solange Tally euch noch zu schützen vermag.«
Angella starrte sie an, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie noch einmal die alte Tally im Blick des Pflanzenmonsters vor ihr zu erkennen, eine winzige Spur von ihr, die noch nicht Teil des monströsen Kollektivbewußtseins dort draußen im Sumpf geworden war.
Jenes winzige Etwas, das sie und Hrhon noch schützte.
Aber es schwand, und wenn es völlig fort war, dann würde dieser gigantische lebende Krebs auch sie verschlingen, so erbarmungslos und kalt, wie er die Hornköpfe verschlungen hatte, Jandhis Kriegerinnen und die Drachen.
»Wir werden es tun«, flüsterte sie. »Wir werden deine Rache beenden. Ich verspreche es dir, Tally.«
Noch einmal blickte Tally sie an, und ein ganz kurzes, unendlich erleichtertes Lächeln glomm in ihren Augen auf.
Dann erlosch ihr Blick.
Für immer.
EPILOG
»Das war... eine sehr traurige Geschichte«, sagte das Mädchen. Einen Moment lang wartete es auf eine Antwort der fremden Frau, aber es bekam keine, und eigentlich hatte es auch nicht damit gerechnet. Es sah auf. Die fremde Frau mit den dunklen Haaren hatte sich gegen einen Baum gelehnt und die Augen geschlossen. Ihr Gesicht lag im Schatten, und es sah aus, als schliefe sie. Aber sie war wach. Nur ein Teil von ihr schien noch in der Vergangenheit zu weilen, bei Tally und Hrhon und all den anderen, die für wenige kurze Stunden durch ihre Worte wieder Leben bekommen hatten.
»Hat sie Wort gehalten?« fragte das Mädchen schließlich.
»Tally?« Die Frau nickte. »Ja. Es war nicht einmal besonders schwer für Angella und Hrhon, den Drachenfels zu verlassen, weißt du? Jedenfalls nicht im Vergleich zu dem, was sie ertragen mußten, um ihn zu erreichen. Nicht alle Drachen waren tot. Ein paar von ihnen waren fortgeflogen, bevor Tally den Berg erreichte, und sie kamen nichtsahnend zurück.«
»Aber Gäa -«
»Vernichtete sie alle«, sagte die Fremde. »Alle bis auf einen, dessen Reiter Angella und Hrhon überwältigten. Sie zwangen sie, ihnen das Geheimnis zu verraten, wie man die Drachen lenkte.«
Das Mädchen dachte einen Moment lang darüber nach, wie man jemanden wie eine Drachenreiterin zu irgend etwas zwingen konnte. Aber dann kam es zu dem Schluß, daß es die Antwort eigentlich gar nicht wissen wollte.
»Diese Geschichte ist... ist wahr, nicht?« sagte es ganz leise. »Ich meine - du hast sie dir nicht nur ausgedacht um... um mir die Zeit zu vertreiben, oder mich zu trösten.«
Die Fremde nickte. »Sie ist wahr.«
»Dann gefällt sie mir nicht«, sagte das Mädehen nach kurzem überlegen. »Sie ist häßlich, und sie hat kein gutes Ende.«
»Sie hat überhaupt kein Ende«, sagte die Fremde. »Hast du vergessen, was Hrhon gesagt hat - es hat gerade erst begonnen.«
»Aber Tally ist doch tot. Sie hat sich selbst geopfert. Warum?«
»Weil es der einzige Weg war«, sagte die Fremde. »Ihr Leben war sinnlos geworden, weißt du? Sie lebte nur noch für ihre Rache, und als sie begriff, daß sie zu schwach war, ihre Feinde besiegen zu können, tat sie das einzige, was ihr noch blieb. Ich glaube«, fügte sie mit veränderter Stimme und nach einer hörbaren Pause hinzu, »in Wirklichkeit war sie schon lange tot. Wahrscheinlich ist sie auch gestorben, damals, als ihre Stadt verbrannte.«
Ihre Worte erfüllten das Mädchen mit Schmerz. Auch seine Stadt war verbrannt, mit allen, die es gekannt und geliebt hatte.
Ob sie eines Tages auch so werden würde wie Tally?
Die Fremde schien ihre Gedanken zu erraten. Vielleicht waren sie auch deutlich auf ihrem Gesicht abzulesen. »Es war nicht umsonst, Kleines«, sagte sie sanft. »Ich weiß, was du jetzt fühlst - auch deine Stadt ist zerstört, und du hast wie Tally die Drachen gesehen, die es getan haben, nicht wahr?«
Das Mädchen nickte. Schwieg.
»Aber es war nicht umsonst«, behauptete die Fremde.
Sie stand auf, kam auf das Mädchen zu und ließ sich vor ihr in die Hocke sinken. »Sie haben hunderttausend Jahre lang geherrscht, Kind«, sagte sie. »Du kannst nicht erwarten, daß wir sie in einem Tag besiegen. Vielleicht wird es weitere hunderttausend Jahre dauern, weißt du, auf jeden Fall aber länger, als irgendeiner von uns leben wird. Aber wir haben den Feind erkannt, und er wird geschlagen werden. Willst du uns dabei helfen?«
»Euch?« fragte das Mädchen verstört.
»Willst du?«
Das Mädchen nickte zögern. Aber es war eher Verwirrung als wirkliche Entschlossenheit. »Aber wie?« murmelte es. »Sie sind so stark. Und so viele. Und sie haben die Drachen und diese entsetzlichen Waffen und...«
»Die Geschichte ist noch nicht zu Ende«, sagte die Frau, und plötzlich war ihre Stimme sehr eindringlich. Fast glaubte das Mädchen eine ganz sachte Spur von Angst darin zu erkennen.