Schließlich zog Tally die Zügel an und gab Hrhon und Essk das Zeichen zum Anhalten. Sie waren noch mindestens vier oder fünf Meilen von ihrem Ziel entfernt, und Tally wäre gerne noch weiter geritten, denn sie waren ihrem Ziel zu nahe, als daß der Gedanke an die dazwischenliegende Entfernung ihre Ungeduld noch merklich dämpfen konnte. Aber es hatte keinen Sinn, mehr von ihren Begleitern zu verlangen, als sie beim besten Willen zu geben imstande waren. Außerdem mußte sie am nächsten Morgen ausgeruht und bei Kräften sein. Einige der Werwesen waren noch immer aktiv, selbst nach all der Zeit, und sie würde jedes bißchen Kraft brauchen.
Während Hrhon und Essk umständlich aus den Sätteln stiegen und damit begannen, das Nachtlager vorzubereiten, ging Tally auf den Kamm der nächstgelegenen Düne hinauf. Hrhon wollte ihr folgen, aber sie scheuchte ihn mit einer unwilligen Handbewegung zurück. Sie wollte allein sein, wenigstens für eine Weile, allein mit sich und ihren Gedanken. Den Erinnerungen.
Erinnerungen, die sie immer wieder einholten, wenn sie hierher kam, als wären sie auf geheimnisvolle Weise in den braungelben Sandkörnern gespeichert, wie im Idiotengehirn eines sabbernden Greises. Sie kamen immer. Jahr für Jahr; jedesmal. Es waren keine schönen Erinnerungen, aber die Bilder hatten sich so tief in ihr Gedächtnis gebrannt, daß sie die Szene so plastisch und klar vor sich sah, als wäre es erst gestern geschehen, vor wenigen Augenblicken, gerade hinter der nächsten Düne, und nicht vor fünfzehn Jahren und am anderen Ende der Welt.
Sie setzte sich in den noch immer heißen Sand, zog die Beine an den Körper und schlang die Arme um die Knie.
Irgendwo vor ihr lag der Turm, unsichtbar und verborgen in der Schwärze der Nacht, aber sie konnte ihn spüren. Wieder, wie jedesmal, wenn sie hierher kam, überkam sie dieses seltsame Gefühl; etwas, was sie nur hier verspürte und das sie nur schwer beschreiben konnte: eine sonderbare Mischung aus Resignation und Enttäuschung und Hoffnung, Hoffnung, die gegen jede Logik war und wohl eher Trotz als irgendeiner anderen Regung entsprang.
Für einen kurzen Moment glaubte sie den Turm fast zu sehen: einen mächtigen, gezackten Schatten, der sich in noch tieferem Schwarz vor der Farbe des Nachthimmels abzeichnete und wie ein mahnender Zeigefinger in die Unendlichkeit wies. Es war hier gewesen, wo sie ihren größten Sieg errungen hatte. Und ihre größte Niederlage.
Aber Tally war kein Mensch, der eine Niederlage akzeptierte. Es hatte in ihrem Leben - in dem Leben, das sie seit fünfzehn Jahren führte, nicht in dem davor, aber das lag ohnehin so lange zurück, daß sie kaum mehr als verschwommene und wahrscheinlich falsche Erinnerungen daran hatte - nur zwei Dinge gegeben, vor denen sie sich gefürchtet hatte: Die Drachen, und den Tod, und vielleicht waren sie beide ohnehin ein und dasselbe. Die Drachen waren nicht hier, und manche - die meisten - behaupteten, daß es sie gar nicht gäbe, und den Tod... nun, die Frist, die ihr noch blieb, bis sie sich ernsthaft mit diesem Thema auseinandersetzen mußte, war noch lang, vorausgesetzt, daß ihr nichts Unerwartetes zustieß - wie ein vergifteter Pfeil zum Beispiel oder eine Schwertspitze. Aber darüber würde sie sich Gedanken machen, wenn die Zeit dafür gekommen war.
Der Wind drehte sich für einen Augenblick und trug das dumpfe Grollen der Horntiere und ihren scharfen Raubtiergestank mit sich. Tally drehte nachdenklich den Kopf und sah zu den beiden Ungetümen zurück. Sie standen, blind und verängstigt, eng zusammengedrängt am jenseitigen Ende des Dünentales, aber sie wirkten selbst jetzt, nur als massige schwarze Schatten in der Nacht erkennbar, noch immer gewaltig und furchteinflößend.
Der Anblick brachte Tally für kurze Zeit in die Wirklichkeit zurück. Sie wurde sich wieder völlig der Tatsache bewußt, wo sie war: an einem der unwirtlichsten und auch wohl tödlichsten Flecken der Welt, einem Ort, der im Grunde aus nichts anderem als Leere bestand und gerade deshalb so gefährlich war. Abgesehen von einer kleinen Armee gab es nicht viel, was sie fürchten mußte, solange sie sich in Begleitung der beiden Waga und ihrer felsenfressenden Reittiere befand. Aber Durst und Hitze und Desorientierung waren etwas, wogegen reine Körperkraft herzlich wenig nutzte. Für einen ganz kurzen Moment wurde sie sich ihrer Lage wirklich bewußt, und für diesen Moment hatte sie Angst. Aber nicht für lange.
Jetzt, als sie ihrem Körper gestattete zu ruhen, griff die Müdigkeit auch nach ihrem Geist, aber es war eine angenehme, sehr wohltuende Müdigkeit, und sie wehrte sich nicht dagegen.
Wieder sah sie nach Norden, und wieder entstand vor ihrem inneren Auge das Bild des Turmes, wenn es auch von der Erinnerung verfälscht war, und Furcht und Haß ihn für sie größer und finsterer erscheinen ließen, als er war. Was sie allerdings durchaus realistisch sah - soweit man im Zusammenhang mit einem Gebilde wie dem Turm das Wort real überhaupt benutzen konnte, waren ihre Aussichten, mit dem Leben davonzukommen. Im Jahr zuvor war sie um ein Haar getötet worden, als sie versucht hatte, sich ihm zu nähern. Und wenn es eines gab, was sie über diese verfluchte Ruine im Herzen der Gehran wußte, dann, daß jeder Schritt auf sie zu doppelt so gefährlich wie der vorhergehende war.
Nein - sie konnte sich kein weiteres Versagen mehr leisten. Diesmal mußte es gelingen, wenn nicht alles, was sie in den letzten zehn Jahren erreicht hatte, umsonst gewesen sein sollte. Es war ihre größte Niederlage gewesen, aber sie spürte, daß es in ihrer Macht lag, sie in ihren größten Sieg umzuwandeln. Der Schlüssel dazu lag vor ihr, zum Greifen nahe. Sie hatte es bisher nur einfach nicht geschafft, ihn aufzuheben.
Diesmal mußte es gelingen. Sie spürte, daß ihr das Schicksal keine weitere Chance zugestehen würde.
Lange Zeit saß sie reglos auf dem Hügelkamm und starrte nach Norden, ehe sie endlich aufstand und zu Hrhon und Essk zurückging. Die beiden Wagas hatten ihr Zelt aufgebaut und ringsum einen flachen Sandwall aufgeschichtet, der Staubspinnen und Krell-Echsen zurückhalten würde, die dem Lager auf einem ihrer nächtlichen Raubzüge zu nahe kommen mochten. Daneben flackerte ein Feuer, über dem sich ein Bratspieß drehte. Der Duft des gebratenen Fleisches ließ Tally das Wasser im Munde zusammenlaufen. Sie war hungrig, und sie spürte erst jetzt, wie hungrig. Tagsüber machte es die Hitze beinahe unmöglich, zu essen, aber jetzt machte ihr Körper seine Bedürfnisse sehr nachhaltig geltend.
Sie setzte sich neben das Feuer, trank einen Schluck lauwarmes Wasser aus der Flasche, die ihr Essk reichte, und zog ihr Messer aus dem Gürtel. Es war die einzige Waffe, die sie trug, und auch sie diente mehr der Zierde, und wenn überhaupt, dann nur dazu, gebratenes Fleisch zu schneiden, kein lebendes. Gegen eine Gefahr, der Hrhon und Essk nicht gewachsen waren, würden ihr auch Waffen nichts mehr nutzen.
Sie aß, trank noch mehr von dem schlecht schmeckenden Wasser, das noch aus der versandeten Quelle stammte, an der sie vor zwei Tagen vorbeigekommen waren, und befestigte die geleerte Wasserflasche sorgfältig wieder an ihrem Sattelzeug. Ihre Wasservorräte waren so gut wie erschöpft, aber beim Turm gab es eine Quelle, und das Wenige, was sie noch hatten, würde für den Rest des Weges reichen.
Eine Zeitlang blieb sie noch am Feuer sitzen und starrte in die lodernden Flammen. Dann kroch sie in ihr Zelt und streckte sich auf dem Lager aus Fellen und Decken aus, das die Waga für sie vorbereitet hatten. Aber sie lag noch lange mit offenen Augen in der Dunkelheit, ehe sie endlich Schlaf fand...
Sie hatte einen Alptraum, ohne sich hinterher daran zu erinnern, was sie eigentlich geträumt hatte; aber er war sehr realistisch gewesen, und selbst, als sie erwachte, glaubte sie sich für einen Moment noch in graue Spinnweben aus Furcht eingewoben und sah dunkle häßliche Dinge, die auf zu vielen Beinen auf sie zukrochen, mit kleinen, ruckhaften Bewegungen. Dann verschwand die Illusion, und zurück blieb ein überraschend schwacher Hauch von Furcht, der aus den tiefsten Abgründen ihrer Seele emporwehte. Sie war in Schweiß gebadet. Ihr Herz schlug so rasch, daß es schmerzte, und sie zitterte am ganzen Leib.