Hrhon hielt seine Gefährtin mit einem schrillen Zuruf zurück, deutete nach Westen und gestikulierte mit beiden Händen, wobei er einen Schwall heller, zischelnder Töne hören ließ, die er für eine Sprache halten mochte.
Essk antwortete im gleichen Dialekt, und plötzlich wurde Hrhons Stimme scharf und laut und befehlend.
Tally hatte Mühe, nicht schon wieder das Bewußtsein zu verlieren. Im gleichen Maße, in dem die Schmerzen in ihren Händen und Armen abklangen, begannen ihre Beine zu schmerzen; zuerst nur die Füße, dann, einer rasch weiter vorrückenden flammenden Linie folgend, die Waden und bis hinauf über die Knie. »Was... ist mit dem Sturm?« fragte sie mühsam. »Ist er vorbei?«
Hrhon versuchte ein menschliches Kopfschütteln nachzuahmen; etwas, was ihm nur teilweise gelang, weil er keinen Hals hatte, den er hätte drehen können.
»Nhein«, zischelte er. »Er khommt sssurück. Esss issst nhur eine Phausssse. Whir sssind in Ghefahrrr.«
»Dann müssen wir... weiter«, stöhnte Tally mit zusammengebissenen Zähnen. »Der... Turm, Hrhon. Schnell. Hilf mir auf... auf das Horntier!«
Aber wieder schüttelte der Waga nur Kopf und Schultern. »Kheine Ssseit mehrrr«, sagte er. »Esss issst nuhrrr eine Athempaussse. Der Sssturm wird kommen. Sssehrrr ssslimm.«
Er wiederholte dieses absurde Kopf- und Schulterschütteln, stand auf und fauchte einen Befehl, der Essk galt. Seine Gefährtin widersprach, aber Hrhon deutete wütend nach Westen und wiederholte seinen Befehl, und diesmal widersprach die Waga nicht mehr. Mit einem schrillen Schrei zwang sie das Horntier, auf der Stelle kehrt zu machen, und ritt zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Tally stöhnte vor Schmerz, als Hrhon sie vorsichtig aufhob und hinter dem stachelbewehrten Giganten herzustapfen begann. »Was hast du vor, du Narr?« keuchte sie. »Du läufst ja geradewegs auf den Sturm zu! Willst du uns umbringen?«
Hrhon antwortete nicht, sondern verdoppelte seine Anstrengungen nur noch, und er entwickelte dabei auf seinen kurzen Beinen sogar ein erstaunliches Tempo.
Tally drehte mühsam den Kopf und versuchte Essk und ihr Reittier in der brodelnden Schwärze vor ihnen auszumachen, aber ihre Lider schienen mit einem Male mit Blei gefüllt und fielen immer wieder zu, und irgend etwas stimmte nicht mit ihrem Sehvermögen: sie sah nur noch schemenhaft, dafür hatten alle Dinge einen schwach leuchtenden Schatten, der ihre Konturen nachzeichnete.
Aber sie erkannte zumindest, daß die Waga die Hornbestie geradewegs auf Hrhons Reittier zutrieb, das mit gebrochenem Genick dalag. Das Tier scheute, als spüre es die Gefahr, auf die es zulief, aber Essk hatte es jetzt wieder völlig unter Kontrolle. Schon nach Augenblicken erreichten sie den Kadaver des stacheligen Giganten und hielten an. Essk begann schrille pfeifende Töne auszustoßen, und die Hornbestie lief ein paar Schritte rückwärts, dann wieder vor, zur Seite, wieder zurück und wieder fort. Tally begriff nicht, was Essk dort tat. Es sah aus, als führten Waga und Horntier einen bizarren, aberwitzigen Tanz auf.
Und dann hob Essk den Arm, sehr hoch und mit einer Bewegung, in der die ganze ungeheuerliche Kraft ihrer vierhundert Pfund lag. Metall blitzte in ihrer Faust.
Die Waga stieß der Hornbestie den Dolch genau in die empfindliche Stelle zwischen ihren Augenhörnern, der einzigen Stelle überhaupt, an der ein Horntier verwundbar war. Das Ungeheuer brüllte, schleuderte Essk mit einem gewaltigen Zucken von seinem Rücken und in den Sand - und sank tot zu Boden. Sein droschkengroßer Schädel krachte mit einem eigentümlich hohl klingenden Laut auf den Schwanz von Hrhons Tier.
Und endlich begriff Tally, was der sonderbare Tanz bedeutete, zu dem Essk ihr Tier gezwungen hatte: die beiden toten Ungeheuer lagen nicht einfach nur tot nebeneinander, sondern genau so, daß sie mit ihren Körpern einen gewaltigen Halbkreis bildeten, dessen geschlossene Seite der schwarzen Wand zugewandt war, die die Welt verschlungen hatte.
Als sie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, heulte der Sturm wieder los. Und Hrhon begann zu rennen.
Irgendwann in der Nacht erwachte Tally für einen Augenblick. Sie hatte geträumt, etwas Entsetzliches, unbeschreiblich Grauenhaftes, aber sie erinnerte sich nicht, was. Trotzdem sah sie für einen Moment graue Spinnfäden und dunkle, widerliche Körper auf zu vielen Beinen, die über ihre Haut huschten. Sie hatte Angst.
Der Sturm heulte noch immer mit ungebrochener Wucht und ließ die Wüste erzittern, und selbst durch die geschlossenen Lider hindurch sah sie die blauweißen dünnen Blitze, die seinen schwarzen Riesenleib durchzuckten, und den dünnen sichelförmigen Kranz aus rotglühendem Horn, der sie und die beiden Wagas schützte.
Sie hatte entsetzlichen Durst, aber ihr fehlte selbst die Kraft, sich mit der Zunge über die Lippen zu fahren, und sie wachte auch nicht wirklich auf. Es war, als gestatte ihr der Traum - der kein wirklicher Traum, sondern ein unbegreiflicher Teil der düsteren Magie des Turmes war - nur eine kleine Erholungspause. Vielleicht benötigte er auch einfach diese Zeit, ihre Erinnerungen zu sondieren und das Wichtigste herauszufiltern, denn wie immer erinnerte sie sich längst nicht an alles, was in jener Nacht vor fünfzehn Jahren geschehen war.
Die Kraft, die sie immer wieder zwang, jenen entsetzlichen Tag aufs Neue zu erleben, sorgte dafür, daß der Schrecken geballt kam. In dem Kaleidoskop des Terrars, in das sie der Sandsturm geschleudert hatte, waren nur die schlimmsten Facetten vorhanden. Der unsichtbare Folterknecht in ihrem Geist würde nicht gestatten, daß sie sich durch die Erinnerung an endlose Stunden der Ruhe erholte; denn das Schicksal hatte an jenem Tag noch weit mehr für sie bereit gehalten - unter anderem die Erkenntnis, daß es eine Grenze für Dinge wie Entsetzen und Furcht nicht gab, sondern eine Steigerung immer möglich war.
Dann schlief sie wieder ein. Und sie träumte weiter; Träume von grauen Spinnfäden und gewaltigen ledernen Schwingen, die die Nacht peitschten, von einem Sturm, der sich zu einer entsetzlichen Grimasse formte und sie verhöhnte, von Hraban, dessen Augen plötzlich groß und rund wurden und aus dessen Mund Blut kam.
Dann erwachte sie wirklich, und diesmal war es ein sehr langsamer, unendlich qualvoller Vorgang, nicht nur von peinigenden Visionen, sondern auch von durchaus realen körperlichen Schmerzen begleitet.
Zurück in der Gegenwart, war sie sich trotzdem im ersten Moment nicht sicher, ob sie nun wirklich erwacht war, oder ob sie nur eine besonders perfide Fortsetzung des Alptraumes erlebte. Ihr ganzer Körper war ein einziger, brennender Schmerz, und sie hatte ganz entsetzlichen Durst. Düstere Farben bewegten sich vor ihren Augen. Jemand hatte einen Dolch in ihre Beine getrieben und drehte ihn ganz langsam und mit großem Genuß herum.
Dann berührte eine Hand ihre Schulter, eine Hand, die so hart und kalt war wie Stahl, und in den wogenden Schleiern vor ihren Augen tauchte das Gesicht der häßlichsten Schildkröte auf, die jemals geboren war. Übrigens auch der größten. Sie erkannte Essk.
»Durst«, murmelte sie. Schon diese kleine Bewegung reichte, ihre Lippen aufplatzen zu lassen. Warmes Blut lief an ihrem Kinn herab. Sie hob die Hand, um es fortzuwischen, aber die Waga drückte ihren Arm mit sanfter Gewalt herunter, gab einen unidentifizierbaren Zischlaut von sich und hob Tallys Kopf und Oberkörper an. Eine Schale wurde an ihre Lippen gesetzt, und sie schmeckte köstliches, eiskaltes Wasser.
Sie trank so gierig, daß ihr übel wurde. Danach gönnte sie sich den Luxus, für endlose Augenblicke einfach mit geschlossenen Augen in Essks Arm zu liegen und beinahe gierig auf jede Regung ihres Körpers zu lauschen.