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»Dasss whäre nicht ghut«, widersprach Hrhon schüchtern. »Ihr ssseid sssehr ssshwach, und der Wheg issst anssstrengend.«

»Dann trägst du mich eben, du kurzstirniges Fischgesicht!« brüllte Tally. »Ich will es sehen! Bring mich hinauf! Auf der Stelle!« Bei den letzten Worten versagte ihre Stimme, so daß sie eher mühsam krächzte als schrie, aber Hrhon wagte es trotzdem nicht, ihr noch einmal zu widersprechen, sondern hob sie gehorsam auf die Arme.

Tallys Herz begann wie wild zu hämmern, als sie den Raum durchquerten und als die ersten Stufen einer breiten, sehr steil in die Höhe führenden Treppe unter Hrhons Stummelbeinen auftauchten. Am oberen Ende der Treppe schimmerte blasses Tageslicht, das sich auf den Wänden und den Stufen brach wie leuchtendes Wasser, so daß sie ein wenig mehr von ihrer Umgebung erkennen konnte als bisher. Es gab allerdings nicht viel mehr zu erkennen als schwarzen Stein; gewaltige quaderförmige Blöcke, ohne erkennbaren Mörtel aufeinandergesetzt, die alle ein wenig schräg aussahen, es aber bei genauerem Hinsehen doch nicht waren.

Tally fieberte vor Ungeduld, während Hrhon sich schnaubend die für seine Beine entschieden zu großen Stufen hinaufquälte. Wütend feuerte sie ihn zu größerer Anstrengung an, aber der Waga hatte die Grenzen seiner Möglichkeiten erreicht. Für die vielleicht hundert Stufen brauchte er annähernd fünf Minuten, und er schwankte während dieser Zeit mehr als einmal so stark, daß Tally ernsthaft befürchtete, sie würden nach hinten kippen und kopfüber die Treppe wieder hinunterschlagen. Aber schließlich erreichten sie das obere Ende der Treppe, und das Licht, das von unten aus betrachtet kaum mehr als blasser Sternenschimmer gewesen war, wuchs zu solcher Intensität heran, daß Tally blinzelte und im ersten Moment fast überhaupt nichts mehr sah.

Hastig hob sie die Hand vor die Augen, gab Hrhon mit Gesten zu verstehen, sie auf die Füße zu stellen, und klammerte sich an seiner Schulter fest, als der Boden unter ihr zu wanken begann. Ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an das grelle, ungemilderte Tageslicht, und die Wärme und die trockene Luft, die über ihr zusammenschlugen, ließen sie abermals schwindeln. Sie befanden sich im Inneren eines sehr großen, annähernd rund geformten Raumes, der vollkommen leer und aus dem gleichen, schwarzen Stein gemauert war wie der Treppenschacht. Aber ein ganzes Drittel seiner Wand war zusammengebrochen, und durch das gewaltige Loch drang das Licht der Wüste herein, noch verstärkt durch den zu Glas geschmolzenen Boden des Todeskreises, der es wie ein Spiegel reflektierte. Tally blinzelte, zwang ihre Augen, trotz der unerträglichen Lichtfülle offen zu bleiben, und humpelte, mit beiden Armen auf die Schultern Hrhons und Essks gestützt wie auf zwei lebende Krücken, auf die Bresche zu.

Der Anblick verschlug ihr den Atem.

Unter ihr, fünfzehn, zwanzig Meter tiefer und fünfhundert Meter entfernt, breitete sich die Wüste aus wie ein endloser gelbbrauner Ozean, dessen Wogen vor einer Million Jahre erstarrt waren, die Luft darüber flirrend vor Hitze und hier und da aufgewühlt von einer Sandhose oder einer Turbulenz - beides so schön wie tödlich.

Davor, bis zum Fuß des Turmes reichend, erstreckte sich ein Kreis vollkommen ebener, zu Glas erstarrter Erde.

Dunkle Löcher mit hellen Kernen gähnten in diesem Riesenspiegel wie eiterige Wunden, und hier und da war es dem Wind gelungen, ein wenig Sand auf der ansonsten makellosen Ebene abzuladen, der jetzt kleinere Brüder der gigantischen Riesenwogen draußen in der Wüste bildete. Und links von ihr, von ihrem Standpunkt hinter der eingestürzten Mauer nur zu einem kleinen Teil zu erkennen, erhob sich der Turm, eine gewaltige abgebrochene Nadel aus nachtschwarzem Stein, so hoch, daß er die Wolken aufgeschlitzt hätte, hätte es welche gegeben.

Nichts von alledem war Tally fremd - sie hatte es zehnmal gesehen, und sie hatte sich jede noch so winzige Einzelheit schon bei ihrem allerersten Besuch hier am Ende der Welt eingeprägt. Aber sie hatte es noch nie aus dieser Richtung gesehen.

»Es ist also wahr«, murmelte sie. Irgend etwas in ihr weigerte sich noch immer, es zu glauben. Sie fühlte weder Triumph noch Freude, sondern nur eine dumpfe, fast schmerzhafte Benommenheit. Die letzten zehn Jahre ihres Lebens hatte sie praktisch nur für diesen Augenblick gelebt. Jetzt, als er da war, fühlte sie - nichts. Sie war betäubt.

»Esss war dhie einsssige Möglichkeit«, lispelte Hrhon neben ihr. Er sprach noch immer im Tonfall einer Entschuldigung, aber die Worte rissen Tally - zumindest teilweise - aus ihrer Betäubung. Mühsam wandte sie den Kopf, ließ Hrhons Schulter los und hielt sich statt dessen an einem Stein fest.

Der Boden hatte aufgehört, unter ihr zu zittern, und der heiße Wüstenwind, der durch die gewaltige Bresche hereinfauchte und sich an der gegenüberliegenden Wand brach, hechelte sie langsam in die Wirklichkeit zurück. Plötzlich wurde sie sich der Tatsache bewußt, daß sie vielleicht der erste lebende Mensch war, der dieses Gebäude betreten hatte.

Aber sie sahen allesamt sehr wenig wie Eroberer aus.

Jetzt, im hellen Tageslicht, sah sie, daß die Schuppenhaut der beiden Waga mit zahllosen, erst halb verkrusteten kleinen Wunden übersät waren. Ihre Panzer glänzten unnatürlich, und an den Rändern waren die normalerweise fingerdicken Knochenschalen ausgefranst und auf die Stärke von brüchigem Pergament abgeschliffen. Und auch sie selbst bot vielleicht nicht unbedingt den Anblick eines Menschen, der einen triumphalen Sieg errungen hatte - mehr tot als lebendig, eingewickelt wie eine Mumie, dafür aber mit nacktem Hintern.

Sie lächelte schmerzlich, wandte sich wieder der Wüste zu und versuchte die Richtung zu finden, aus der sie gekommen waren. Sie befanden sich nicht im eigentlichen Turm, sondern in dem kleineren, fast völlig zerstörten Gebäude daneben, über dessen Sinn sie sich seit zehn Jahren vergeblich den Kopf zerbrochen hatte, und wenn sie das Bild noch richtig im Kopf hatte, das sich ihr von der Düne aus geboten hatte, mußte ihr letztes Nachtlager in ziemlich gerader Linie vor ihr liegen. Aber sie sah nichts mehr, obwohl der Blick hier in der Wüste sehr viel weiter reichte als anderswo. Nicht einmal die Skelette der beiden Hornbestien waren noch zu erkennen.

»Wir musssten esss tun«, fuhr Hrohn fort. »Dherrr SSSturmm Wwar...«

»Es ist gut, Hrhon«, unterbrach ihn Tally. »Es war richtig. Schließlich wollte ich ja hierher, oder?« Sie wandte sich wieder zu dem Waga um und lächelte, wurde aber sofort wieder ernst. Hrhon stand in sonderbar geduckter Haltung da, einen halben Schritt von ihr zurückgewichen und die Arme ein ganz kleines bißchen angewinkelt, und auch Essk hatte sich von ihr abgewandt und betrachtete mit großem Interesse ein nicht vorhandenes Bild auf der schwarzen Wand vor sich.

Und plötzlich begriff Tally, daß die beiden Wagas Angst hatten.

Aber natürlich, dachte sie. Ihr Vorhaben - nein, ihr fanatischer Wille - den Todesgürtel zu überwinden und diesen Turm zu erreichen, war in den letzten zehn Jahren so sehr zu einem Teil ihres Denkens geworden, daß sie manchmal vergaß, wie wenig Hrhon oder Essk oder irgenein anderes denkendes Wesen davon wissen konnten. Für die beiden Wagas waren ihre Besuche beim Turm - die sie vorher vielleicht schon zwanzigmal bei Hraban und fünfzigmal bei seinen verschiedenen Vorgängern miterlebt hatten - stets gleich gewesen. Sie hatten sich dem Turm und dem Todeskreis genähert, um danach sofort wieder den Rückweg anzutreten. Niemand hatte jemals versucht, wirklich hierher zu kommen. Die beiden Wagas zitterten innerlich vor Angst, denn für sie war das, was sie getan hatten, etwas Unvorstellbares gewesen. Sie hatten das Unberührbare berührt und ein Gesetz gebrochen, das vielleicht so alt war wie diese Welt.

»Es ist gut, Hrhon«, sagte sie noch einmal, und jetzt so sanft, wie sie nur konnte. »Ihr habt mein Leben gerettet. Und dies hier.« Sie griff nach dem Blutstein an ihrem Hals. »Ihr wißt, wie wichtig es für die Sippe ist. Ihr mußtet es tun. Ich danke euch dafür.«