Gedelfi hörte schweigend zu. Nicht einmal sein Atem ging schneller, während Talianna ihm all die unbeschreiblichen Schrecknisse beschrieb, die sie sah, mit der klaren, präzisen Wortwahl einer Erwachsenen und der grausamen Detailfreude einer Zehnjährigen.
Erst, als sie zu Ende gekommen war und schwieg, löste sich die Hand des Blinden von ihrer Schulter, und wie sie es immer tat, wenn sie Gedelfis Berührung nicht mehr spürte, drehte sie sich zu ihm um und blickte ihn an.
Sie erschrak. Gedelfis Gesicht war ausdruckslos, aber es war jene Art von Beherrschtheit, hinter der sich pures Entsetzen verbarg. Seine Hände zitterten ganz leicht. Mit einem Male kam er ihr alt vor, unendlich alt. Niemand hatte ihn jemals gefragt, wie alt er wirklich war - siebzig sicherlich, vielleicht aber auch achtzig Jahre oder mehr, und zum allerersten Male überhaupt begann Talianna zu ahnen, was diese Zahl wirklich bedeutete.
»So schlimm?« murmelte er.
Sie nickte. Dann, als ihr einfiel, daß er die Bewegung nicht spürte, weil seine Hand nicht auf ihrer Schulter lag, sagte sie: »Ja. Es ist nichts mehr übrig. Das Dorf ist ausgelöscht.«
Gedelfi schauderte ein wenig - von ihnen allen hatte er als erster gewußt, wie umfassend die Katastrophe war, die über das Dorf hereingebrochen sein mußte. Denn während sie zitternd und schreiend vor Angst in der Schwärze des Minenschachtes gelegen und nur ein dumpfes Grollen und Beben der Erde gespürt und dann und wann Laute gehört hatten, die zwar entsetzlich, aber ohne wirkliche Bedeutung gewesen waren, hatten ihm die übersensiblen Sinne eines Blinden deutlich gesagt, was wirklich geschah.
Und dann, mit einiger Verspätung, begriff Talianna, daß Gedelfis Schaudern ihr galt.
»Was ist das, Talianna?« fragte er. »Was geschieht mit dir?«
»Ich... verstehe nicht«, antwortete Talianna. »Was meinst du?«
Gedelfi antwortete nicht gleich. Er schwieg sogar eine ganze Weile, aber der Ausdruck von... Furcht?... auf seinen Zügen blieb, als er weitersprach: »Da ist etwas in deiner Stimme, Kind. Etwas, das vor einer Stunde noch nicht da war. Es macht mir Angst.«
»Meine Eltern sind tot«, erinnerte Talianna. »Mein Heim ist verbrannt, meine Stadt ist zerstört, und fast alle, die ich gekannt habe, sind umgebracht worden.« Plötzlich bebte ihre Stimme vor Zorn, aber es war ein kalter, eisiger Zorn, der sie fast selbst ein bißchen schaudern ließ. »Jemand ist hierhergekommen und hat all diese Leute umgebracht, und er hat alles vernichtet, was sie aufgebaut haben, und hat -« Ihre Stimme versagte, nicht vor Schmerz, sondern einfach, weil ihr die Worte fehlten, so schnell, wie sie sie hervorsprudeln wollte. Sie atmete hörbar ein.
Gedelfi schüttelte den Kopf. Seine Augen waren weit und dunkel und genau auf ihr Gesicht gerichtet, fast, als könne er sie sehen. »So spricht kein Kind«, sagte er, sehr leise, aber auch sehr bestimmt.
Und plötzlich begann Talianna zu weinen: laut, krampfhaft und so heftig, daß ihr der Hals weh tat und ihren Beinen plötzlich die Kraft fehlte, sie weiter zu tragen. Sie sank auf die Knie, verbarg das Gesicht in den Händen und schluchzte hemmungslos. Sie wußte nicht warum, denn sie fühlte noch immer keinen Schmerz, nicht einmal Trauer, aber sie konnte die Tränen auch nicht zurückhalten. Und aus dem gleichen, scheinbar nicht vorhandenen Grund, aus dem sie überhaupt weinte, erleichterte es sie jetzt doch. Wenn auch nur ein ganz kleines bißchen.
Gedelfi sank neben ihr in die Hocke, streckte tastend die Hand aus, um nach einem Halt zu suchen, und legte die andere auf ihre Schulter, in der gewohnten, warmen Art, nicht einmal in dem Versuch, sie zu trösten. Irgendwann versiegten ihre Tränen, aber sie blieb weiter so sitzen, und plötzlich, und wieder, ohne daß sie wußte warum, fuhr sie herum, warf sich an die Brust des alten Mannes und klammerte sich mit aller Kraft an ihm fest.
»Warum haben sie das getan?« flüsterte sie.
Gedelfis Hand berührte ihr Haar, streichelte es sanft und fiel wieder auf ihre Schulter herab. »Ich weiß es nicht, mein Kind«, sagte er schließlich. »Manchmal geschehen Dinge aus Gründen, die wir nicht verstehen, und manchmal auch ohne Grund.«
»Aber es war so sinnlos!« protestierte Talianna.
»Nichts ist sinnlos«, widersprach der Alte. Er lächelte, aber es war eigentlich nur ein Verziehen der Lippen, das ebensogut ein Ausdruck von Schmerz sein mochte. Oder Wut.
»Weißt du, Talianna«, fuhr er fort, »wenn ich jetzt zehn Jahre jünger wäre und mich noch für weise und erfahren halten würde, dann würde ich dir eine Menge Dinge sagen, die du nicht verstehen würdest. Ich könnte sagen, daß du nicht verzweifeln sollst oder stark sein mußt, oder daß du schließlich am Leben bist und noch jung und eine gute Chance hast, noch glücklich zu werden.«
Er legte eine kleine Pause ein. Talianna grub den Kopf aus den Falten seines zerschlissenen Gewandes und sah zu ihm auf.
»Ich werde nichts von alledem sagen«, fuhr Gedelfi fort. »Es wäre nicht wahr, weißt du? Wenn du Trauer verspürst, dann trauere ruhig, und wenn du verzweifelst, dann kämpfe nicht dagegen.«
Talianna wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Ihre Nase lief. Sie zog sie hoch, angelte nach einem Zipfel ihres Kleides und schneuzte sich lautstark.
»Es ist sinnlos, dagegen zu kämpfen«, fuhr Gedelfi fort, nach einer neuerlichen, langen Pause, als hätte er Zeit gebraucht, sich die Worte zurechtzulegen, vielleicht auch neue Kraft zu sammeln. »Es ist das Schicksal, weißt du? Es ist schrecklich und ungerecht und mag dir sinnlos erscheinen, aber es ist hunderttausendmal geschehen, seit es Menschen gibt, und es wird hunderttausend weitere Male geschehen, solange die menschliche Rasse besteht.«
Talianna verstand nicht, was Gedelfi meinte. Einen Moment lang überlegte sie, ob in seinen Worten vielleicht ein Sinn verborgen war, den sie nicht erkannte.
Aber vielleicht war er auch einfach nur alt und redete den Unsinn, den alte Menschen manchmal redeten; und mit der Überzeugungskraft, mit der sie es taten. Trotzdem fragte sie: »Warum tut es dann so weh, Gedelfi?«
»Weil es uns zeigt, daß wir verwundbar sind«, antwortete der Blinde. »Weißt du, Kind, es ist so einfach, daß es vielleicht gerade deshalb die meisten niemals erkennen. Die Welt ist voller Unglück, aber weil sie so groß ist und es so viel Leid gibt -« Er lachte schrill. »- stößt der allergrößte Teil dieses Unglückes nun einmal anderen zu. Und das macht uns stark.«
»Stark? Wieso?«
Gedelfi nickte. »Weil es anderen geschieht, und nicht dir. Du fühlst dich sicher, weil du lebst, wenn neben dir ein anderer im Sumpf ertrinkt. Dein Haus kann nicht brennen, weil es das deines Nachbarn war, das der Blitz traf, und du bist auch gegen Verletzungen gefeit, weil nicht du, sondern dein Bruder von Wölfen angefallen und zerrissen worden ist. Natürlich«, fügte er mit einem leisen, nicht sehr humorvollen Lachen hinzu, »weißt du ganz genau, daß das nicht stimmt, denn du hast ja Verstand und kannst dir an deinen zehn Fingern abzählen, daß du irgendwann einmal an der Reihe bist. Und trotzdem glaubst du es nicht. Bis es dich dann trifft.« Er seufzte. »Das ist es, was weh tut, Kind. Es ist nicht Liebe, wenn sie an den Gräbern ihrer erschlagenen Männer weinen. Es ist Angst. Angst und Zorn, weil ihnen etwas weggenommen wurde. Du weinst um diese Stadt und deine Eltern und Freunde, und du denkst, es wäre Trauer, und solange du das denken willst, tu es ruhig. Aber es ist nicht wahr. Du weinst, weil sie dir weggenommen wurden. Weil man dir etwas genommen hat, das dir allein gehört hat, keinem sonst.«