»Ich habe meine Eltern geliebt«, widersprach Talianna heftig. Aber wieder schüttelte Gedelfi nur den Kopf.
»So etwas wie Liebe gibt es nicht«, sagte er leise. »Es gibt nur Eigennutz. Du kannst dich für einen Menschen, den du liebst, opfern, und viele haben es getan. Aber in Wahrheit tust du es doch nur, um dein Eigentum zu schützen.«
Gedelfi sprach nicht weiter, sondern wandte den Kopf und starrte aus seinen erloschenen Augen zum Fluß hinab, und Talianna dachte sehr lange über das nach, was er ihr gesagt hatte. Sie maßte sich nicht an, zu urteilen, ob er nun weise oder einfach nur zu alt war - aber seine Worte hatten irgend etwas in ihr berührt, und vielleicht hatte sie plötzlich Angst vor ihm.
Sie war verwirrt. Und so hilflos und allein, wie es ein zehnjähriges Mädchen nur sein konnte, dessen Welt vor wenigen Stunden in Feuer und Rauch aufgegangen war, im wortwörtlichen Sinne. Und sie fragte sich, ob es sich lohnte, so alt wie Gedelfi zu werden, wenn dies die Erkenntnis war, die man aus einem achtzig Jahre währenden Leben zog. Trotzdem kuschelte sie sich noch enger an Gedelfis Brust, denn trotz allem war sie noch immer ein zehnjähriges Mädchen, dem nichts so viel Trost zu spenden vermochte wie die Nähe eines Erwachsenen.
»Hast du gesehen, aus welcher Richtung sie kamen?« fragte Gedelfi plötzlich.
Talianna nickte. »Von Norden«, antwortete sie.
»Norden.« Gedelfi wiederholte das Wort, als wäre es die Bestätigung von etwas, das er längst gewußt hatte.
»Waren es viele?«
Talianna schüttelte den Kopf. »Nein. Zehn... vielleicht zwölf. Ich weiß es nicht. Es war zu dunkel. Ich... konnte nicht viel erkennen. Nur Schatten und dann das Feuer.«
Ihre Stimme versagte. Gedelfis Frage und ihre Antwort ließen die Bilder vom vergangenen Abend wieder vor ihren Augen erscheinen wie bizarre Impressionen eines Geschehens, von dem sie nur einen Bruchteil erkannt hatte: die fliegenden Kolosse, die mit absurder Leichtigkeit tief über die Hügelkette herangesegelt gekommen waren, die Schwingen weit gespreizt und reglos wie die aberwitzig großer Mauersegler, dann ein ungeheuerliches Schlagen und Rauschen und schließlich Feuer, Feuer, Feuer überall. Ein sengender Blitz, der auch nach ihr gestochen hatte, in irrsinnigem Zickzack auf sie zurasend und eine Spur weiß geschmolzener Erde vor dem Waldrand hinterlassend, ehe er abbrach, zehn Schritte vor ihr und schon so heiß, daß ihr sein Gluthauch Wimpern und Brauen versenkt hatte.
»Sonst hast du nichts gesehen?« fragte Gedelfi.
Sie hatte etwas gesehen, und obwohl ihr die Erinnerung all den Schrecken und das Entsetzen brachten, die beim Anblick der verstümmelten Stadt fehlten, zwang sie das Bild noch einmal mit Gewalt vor ihre Augen. Es wäre nicht nötig gewesen, um Gedelfis Frage zu beantworten, und es tat nur weh. Aber es gehörte einfach dazu.
»Es waren... Reiter auf den Drachen«, antwortete sie.
»Reiter«, wiederholte Gedelfi. In seiner Stimme war keine Spur von Überraschung oder Unglauben. »Bist du sicher?«
»Ganz sicher«, sagte Talianna.
»Also doch«, murmelte Gedelfi. Talianna verstand nicht, was er damit sagen wollte, aber es war etwas in seiner Stimme, was sie frösteln ließ. Er atmete hörbar ein.
»Sag es niemandem, Talianna«, fuhr er dann leise fort. »Hörst du? Niemandem. Ganz gleich, was geschieht. Das Beste wird sein, du vergißt es. Nicht nur für dich.«
Das Nicken, mit dem Talianna auf seinen Rat antwortete, war zum Teil eine Lüge. Die Hälfte seiner Bitte würde sie erfüllen. Die andere nicht. Niemals.
Natürlich kam der Schmerz doch, später. Mit jeder Sekunde, die verging, wurde er ein ganz kleines bißchen heftiger, aber gleichzeitig - und ohne daß das eine das andere irgendwie beeinträchtigt hätte - nahm auch die betäubende Leere in ihrem Inneren zu. Der Tag verging, ohne daß sie hinterher genau zu sagen gewußt hätte, wie: Stunden, in denen sie reglos am Fluß saß und mit starrem Blick ins Leere sah, wechselten mit solchen voller hemmungslos fließender Tränen und qualvollem Schluchzen und Weinen ab. Gedelfi saß die ganze Zeit bei ihr, und obwohl ihr eine dünne boshafte Stimme zuflüsterte, daß der Blinde, hilflos wie er war, ja gar keine andere Wahl hatte, redete sie sich ein, daß er geblieben war, um sie zu trösten.
Irgendwann wurde es dunkel, und kurz darauf glomm nicht sehr weit hinter ihr ein Feuer auf. Seltsamerweise war es das Prasseln der Flammen, das sie aus ihrer dumpfen Trauer riß. Obwohl es ein Laut war, der sie mit Schrecken und neuer Panik hätte erfüllen müssen, erzeugte er nur Gedanken an Wärme und Geborgenheit und Schutz in ihr.
Sie stand auf, nahm Gedelfi behutsam an der Hand und half dem alten Mann beim Aufstehen; ein Unterfangen, das gar nicht so einfach war, denn Gedelfis alte Knochen waren steif geworden vom stundenlangen Sitzen. Talianna war sicher, daß ihm die Bewegung große Schmerzen bereitete, aber er erhob sich klaglos und folgte ihr, als sie auf das Feuer zuging, und die wenigen Schatten, die sich davor abzeichneten.
Es war sehr still; das Knacken und Bersten der brennenden Scheite klang sonderbar unwirklich, als wäre es der einzige Laut in einer Welt aus Stille. Niemand sprach, auch nicht, als Talianna und Gedelfi näherkamen und sich schweigend in dem Kreis erschöpfter Gestalten niederließen. Während des Tages hatten sie alle auf ihre Weise auf das Unvorstellbare reagiert, das sie gesehen hatten: die einen mit Weinen und Wehklagen, andere mit Flüchen und Verwünschungen oder beidem, und eine Frau, deren Namen Talianna nicht kannte, war stundenlang durch die verkohlten Trümmer gestolpert und hatte den Namen ihres Mannes geschrien, bis einer der anderen sie mit einem Schlag ins Gesicht zum Verstummen gebracht hatte. Jetzt aber waren sie alle in brütendes Schweigen verfallen.
Talianna registrierte mit einer Art teilnahmslosem Entsetzen, daß sie noch immer nur elf waren, und mit einem Male war sie vollkommen sicher, daß sie auch nicht mehr werden würden. Die anderen, die in blindem Entsetzen aus der Stadt und in die Minen jenseits des Flusses geflohen waren, würden nicht mehr kommen. Der Tod mußte sie auch in ihrem hundert Meter tief unter der Erde liegenden Versteck erreicht haben.
Mußte? Beim Schlund - sie hatte die Feuersäule gesehen, die aus dem Berg gebrochen war wie aus dem Herzen eines lavaspeienden Vulkans!
Mit dem Abend stieg ein kühler Hauch vom Fluß auf, und Talianna rutschte ein wenig näher ans Feuer heran. Absurderweise mußte sie daran denken, daß heute ein Feiertag gewesen war, der höchste Feiertag Stahldorfs überhaupt, und daß sie auch wenn es anders gekommen wäre jetzt um ein Feuer gesessen hätten, nur nicht elf, sondern dreitausend, und nicht verstummt vor Entsetzen und Schmerz, sondern lachend und fröhlich und viele von den Erwachsenen betrunken und ausgelassen.
Einen Moment lang fragte sie sich, ob es vielleicht eine besondere Ironie des Schicksals gewesen war, daß ihr dieser Tag das Leben gerettet hatte, ihr und den anderen. Wären sie und Gedelfi und die neun anderen Männer und Frauen nicht kurz vor Dunkelwerden noch einmal in den Wald hinaufgegangen, um Dämmerpilze für das große Festessen am nächsten Tag zu sammeln, wären auch sie jetzt tot. Und ganz plötzlich wußte sie, daß es kein Zufall gewesen war.
Stahldorf war eine gewaltige Stadt gewesen - wenigstens für die Begriffe eines zehnjährigen Kindes wie Talianna - und es gab im ganzen Jahr wohl nur einen einzigen Abend, an dem alle ihre Einwohner in den Häusern waren, in dem sie ihre Arbeit in den Minen oder am Fluß, ihre Felder und Kohlemeiler im Wald verließen und gemeinsam das Mitsommerfest vorbereiteten.