Oh ja, dachte sie bitter. Sie hatten genau gewußt, warum sie ausgerechnet an diesem Abend gekommen waren, diese großen finsteren Gestalten auf ihren gewaltigen Tieren.
Die Frau rechts neben Talianna bewegte sich. Sie sah auf, blickte Talianna und Gedelfi an und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie sah aus wie jemand, der unvermittelt aus einem sehr tiefen Schlaf erwacht war. »Sie sind alle tot«, murmelte sie. Dann lächelte sie, und ihre Augen funkelten wie die einer Wahnsinnigen. »Niemand lebt mehr. Sie sind alle tot.«
Talianna erkannte sie jetzt - es war die Frau, die geschlagen worden war, weil sie stundenlang den Namen ihres Mannes geschrieen hatte. Jetzt waren ihre Tränen versiegt. Ihre Stimme klang überrascht und milde verärgert. »Sie sind selbst Schuld, nicht wahr? Sie haben es doch gewußt, oder nicht?« Die Frage war an niemanden gerichtet, und niemand antwortete; trotzdem richtete sie sich plötzlich stocksteif auf, sah sich mit kleinen hektischen Bewegungen um und fragte noch einmaclass="underline" »Sie wußten es doch, oder?«
»Halt endlich das Maul, Weib«, murmelte der Mann, der sie schon einmal zum Schweigen gebracht hatte.
Talianna wußte seinen Namen nicht, aber sie kannte ihn: in einer Stadt von dreitausend Seelen gab es kaum jemanden, den sie nicht gekannt hätte. Er war Händler gewesen und hatte ein prachtvolles Haus am unteren Ende der Straße gehabt, dort, wo jetzt nur der poröse schwarze Ozean aus Eisen die Erde bedeckte. Talianna erinnerte sich, daß er immer sehr freundlich zu ihr gewesen war, und daß sie ihn gemocht hatte, wie man einen Fremden mögen kann, den man nur vom Sehen kennt.
Er war sehr groß: ein Mann von fast zwei Metern, mit den Händen eines Schmiedes und der sanften Stimme eines Priesters. Jetzt klang seine Stimme rauh, seine Hände waren schwarz und blutig vom Graben in den Trümmern, und irgendeine düstere Magie hatte ihn zur Statur eines großen, buckeligen Zwerges schrumpfen lassen.
»Aber sie hat recht«, sagte Gedelfi leise. »Und du weißt es. Wir alle haben es gewußt.«
Der Mann ballte zornig die Fäuste und warf Gedelfi einen drohenden Blick zu, den der Alte natürlich nicht sehen konnte. »Du sollst schweigen!« sagte er drohend. »Ich kann euer Gewinsel nicht mehr hören!«
Gedelfi verstummte tatsächlich, denn wenn er auch die drohende Gebärde des Riesen nicht sehen konnte, hörte er um so deutlicher den hysterischen Unterton in seinen Worten. Die Frau jedoch verstummte nicht, sondern begann im Gegenteil leise und sehr schrill zu kichern. »Wir haben es alle gewußt, Aru«, sagte sie, und Talianna erinnerte sich jetzt, daß dies auch der Name war, den sie geschrieen hatte. Sie antwortete nicht auf die Worte des Riesen, sondern sprach mit ihrem toten Mann. »Es ist die Strafe der Götter. Unsere Eltern haben es uns gesagt, so wie ihre Eltern es ihnen gesagt haben. Die Alten haben gewußt, daß es geschehen würde.«
»Gewußt!« Der Riese spie in die Flammen. »Dummes Geschwätz. Die Götter! Ha! Das waren -«
»Sie haben es gewußt«, beharrte die Frau. »Und auch wir. Sie haben gewartet, weil ihre Geduld groß ist, aber jetzt sind sie gekommen und haben uns bestraft.«
»Wenn du nicht gleich das Maul hältst, werde ich dich bestrafen, blödes Weib«, sagte der Riese. Aber sein Zorn war aufgebraucht. Er sagte es in einer Art, die deutlich machte, daß er seine Drohung nicht wahrmachen würde.
Talianna hörte der bizarren Unterhaltung mit einer Mischung aus Neugier und Verwirrung zu. Irgendwie glaubte sie zu spüren, daß die Worte der Frau nicht nur das Gestammel einer Wahnsinnigen waren, sondern eine Wahrheit enthielt, von der sie bisher nichts gewußt hatte.
Die Götter? dachte sie. Von welchen Göttern sprach die Frau? Es gab Dutzende von Göttern allein hier im Dorf, Tausende auf der ganzen Welt, und vielleicht hatte jeder Mensch, der überhaupt lebte, seinen ganz persönlichen Gott.
Aber Götter ritten nicht auf flammenden Drachen durch den Himmel.
Der nächste Morgen fand sie auf einer Ebene aus erstarrtem Eisen stehend, die Augen rot vor Müdigkeit, zitternd vor Schwäche, mit klopfendem Herzen und den Reitern entgegenblickend, die über den Hügel kamen. Im blassen Licht der Sonne, die erst zu einem Drittel über den Horizont gestiegen war, wirkten sie wie schwarze Scherenschnitte, zwei, drei Dutzend oder mehr, die sich den Hügel hinabbewegten und dabei auf breiter Front ausschwärmten.
Sie war nicht allein, denn bis auf Gedelfi und die verrückt gewordene Frau waren ihr alle gefolgt, die ihren Schrei gehört hatten, um den Männern entgegenzueilen.
Talianna hatte Angst. Es war ihr unmöglich, still zu stehen, denn der Boden unter ihren Füßen war so heiß, daß ihre Sohlen schmerzten. Unter der Decke aus erstarrtem Eisen mußte noch immer Glut sein, als wäre die Erde so tief verwundet, daß sie Feuer blutete. Etwas an diesen Reitern erschreckte sie, und ein Blick in die Gesichter der anderen zeigte ihr, daß sie mit diesem Gefühl nicht allein war.
Natürlich hatten sie auf sie - oder jedenfalls Männer wie sie - gewartet. Das ungeheure Feuer mußte gesehen worden sein, und die Menschen würden von überallher herbeiströmen, um zu helfen. Tatsächlich hatte sich mehr als einer während der Nacht schon gewundert, daß es so lange dauerte, bis Hilfe oder wenigstens die ersten Neugierigen eintrafen; denn die nächstgelegene Stadt lag nur einen halben Tagesritt entfernt, und tatsächlich war der Weg von dort nach Stahldorf in dieser Nacht bereits mit den Leichen derer gepflastert, die sich aufgemacht hatten, um ihnen zu helfen. Aber das ahnten weder Talianna noch einer der anderen. Nein - sie spürten nur, daß irgend etwas an diesen Reitern nicht so war, wie es sein sollte.
Es waren sehr viele, und als sie näher kamen, erkannte Talianna, daß nicht alle von ihnen menschliche Wesen waren, und längst nicht alle auf Pferden ritten. Und auch ihre Art, sich der Stadt zu nähern - auf breiter Front und langsamer, als es beim Anblick einer zerstörten Stadt und einer Handvoll Überlebender zu erwarten wäre - erinnerte Talianna auf bedrückende Weise viel eher an den Anblick einer heranrückenden Armee als eines Hilfstrupps.
Keiner von ihnen rührte sich, während die Reiter näherkamen. Etwa ein Dutzend von ihnen näherte sich der kleinen Gruppe verängstigter Menschen bis auf wenige Schritte und hielt an, während die übrigen in einer weit ausholenden Zangenbewegung die Stadt einzuschließen begannen. Die Pferde bewegten sich unruhig auf dem heißen Boden. Ihre Reiter hatten Mühe, sie im Zaum zu halten. Es roch ganz leicht nach heiß gewordenem Horn.
Talianna blickte mit klopfendem Herzen zu den Reitern empor. Die Männer waren ausnahmslos groß und von kräftiger Statur, und sie zweifelte nun nicht mehr daran, daß es eine Armee war, der sie gegenüberstanden; denn Kleidung und Waffen der Reiter waren nicht die einfacher Reisender, sondern die von Kriegern.
Die meisten trugen lange Schwerter aus Bronze oder messerscharf geschnittenem Obsidian im Gürtel, andere Äxte oder Keulen und so mancher eine Waffe, die sie nie zuvor gesehen hatte. Obwohl sie keine Uniformen trugen und ihre Kleider ein bunt zusammengewürfeltes Sammelsurium aus Fellen und Leder und Stoff darstellte, ähnelten sie sich auf schwer in Worte zu fassende Weise.
Irgend etwas war in ihren Gesichtern - selbst in denen der drei nicht-Menschen, die bei dem Dutzend Reiter war - das sie verband.
Talianna fröstelte. Die Männer machten ihr Angst.
Und sie war nicht allein mit diesem Gefühl, denn die acht Erwachsenen, die mit ihr hergekommen waren, um die Reiter zu begrüßen, schwiegen so verbissen wie sie.
Niemand sprach ein Wort der Erleichterung, niemand begann zu weinen oder eilte den Männern entgegen, um sie zu umarmen - nichts von dem, was Talianna erwartet hatte, geschah. Der Anblick des Dutzends waffenstarrender Reiter allein reichte aus, ihnen allen zu sagen, daß sie Feinden gegenüberstanden.