Schließlich war es einer der Fremden, der das Schweigen brach. »Was ist hier geschehen?« fragte er, mit einer Stimme, die in krassem Widerspruch zu seinem vernarbten Gesicht und seinen schwieligen Fäusten stand. Sie klang sehr sanft, trotz des fordernden Tones, den er in seine Worte gelegt hatte.
Niemand antwortete. Der Reiter runzelte die Stirn, schwang sich mit einer überraschend geschmeidigen Bewegung vom Rücken seines Pferdes und maß das kümmerliche Häufchen angstzitternder Überlebender mit einem langen Blick.
Talianna sah jetzt, daß er nicht so groß war, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte; was ihn so massig erscheinen ließ, war wohl eher der fellbesetzte Lederpanzer und der wuchtige Helm, den er trug. Aber er war sehr kräftig, und seine Bewegungen waren eindeutig die eines Mannes, der es gewohnt war, zu befehlen.
»Was hier geschehen ist, habe ich gefragt!« wiederholte er streng.
»Wir... sind überfallen worden«, antwortete einer der Männer. »Sie haben die Stadt niedergebrannt und alle getötet.«
»Sie?« Eine schmale Falte kroch unter dem Rand des Helmes hervor und grub sich zwischen die Augen des Kriegers. »Wer? Wie ist dein Name, Bursche, und wo sind die anderen?«
»Mein... mein Name ist Joffrey, Herr«, stammelte der Mann. Er war blaß vor Furcht.
Der Krieger machte eine wegwerfende Handbewegung. »Spar dir den Herren«, sagte er grob. »Mein Name ist Hraban. Meine Männer und ich -« Er machte eine Bewegung zu seinen Begleitern. »- sind Söldner, auf dem Weg nach Osten. Wir haben gehört, daß es dort Arbeit für uns gibt. Aber dieser Teil des Landes liegt mit niemandem im Krieg. Ich muß das wissen, oder?« Er schürzte die Lippen, als warte er auf eine Bestätigung, aber Joffrey schwieg weiter. »Wer also hat euch überfallen, und wo sind die anderen?«
»Wir wissen es nicht, He... Hraban«, antwortete Joffrey stockend. »Sie kamen in der Nacht, und es... es ging alles so schnell. Wir hatten uns verborgen.« Der letzte Satz klang wie eine Entschuldigung.
Hraban starrte ihn an. »Was ist mit dir los, Kerl?« fragte er scharf. »Wir haben das Feuer gesehen und sind geritten wie die Teufel, um euch zu helfen, und ihr belügt uns?« Seine Hand klatschte auf den Gürtel herab.
Er war der einzige unter den Männern, der keine Waffe trug, aber die Geste allein war eindeutig genug. Und zumindest in Taliannas Augen war es gerade seine Waffenlosigkeit, die ihn viel bedrohlicher erscheinen ließ als die anderen.
»Ich lüge nicht, Herr!« sagte Joffrey hastig, aber Hraban schnitt ihm mit einer zornigen Handbewegung das Wort ab.
»Du willst mir erzählen, irgend jemand hätte das hier angerichtet, ohne daß ihr gesehen hättet, wer?« meinte er mit einer Geste auf die zerstörte Stadt. Joffrey senkte angstvoll den Blick, und Hraban fuhr mit einem zornigen Laut herum und wandte sich an die Frau rechts neben Talianna.
»Und du?« schnappte er. »Hast du auch dein Gedächtnis verloren?«
»Nein, Herr«, antwortete die Frau flüsternd. »Es ist nur, daß...«
»Es waren die Drachen«, sagte Talianna ruhig.
Hraban blinzelte, legte den Kopf auf die Seite, lächelte flüchtig und wurde sofort wieder ernst. »Wie hast du gesagt, Kind?«
Eine Hand legte sich auf Taliannas Schulter, und eine Stimme sagte: »Hört nicht auf sie, Hraban. Sie ist ein dummes Kind. Der Schrecken hat ihr den Verstand verwirrt.«
»Mir scheint eher, sie ist die einzige von euch, die bei klarem Verstand geblieben ist«, grollte Hraban. »Laßt sie reden.«
Er trat auf Talianna zu, ließ sich vor ihr in die Hocke sinken und legte die Hand auf ihre Schulter, eine Berührung, die an die Gedelfis vom vergangenen Abend erinnerte. Obgleich Hrabans Finger nur ganz leicht auf ihr ruhten, spürte sie die gewaltige Kraft, die darin schlummerte. Sie suchte vergeblich in ihrem Inneren nach einem Anzeichen von Angst.
»Es waren die Drachen, Herr«, sagte sie noch einmal. »Ich... ich habe sie gesehen, ganz deutlich. Sie kamen von Norden und... und sie haben Feuer gespuckt und alles zerstört.«
»Nun, alles nicht«, sagte Hraban lächelnd. »Immerhin lebt ihr ja noch, und sicher auch noch andere.« Er lächelte abermals, verlagerte sein Körpergewicht ein wenig und richtete sich schließlich wieder auf. Mit einer abrupten Bewegung wandte er sich um und deutete auf einen seiner Begleiter. »Denon! Gib diesem undankbaren Gesindel zu essen und zu trinken und laß den Wundheiler kommen. Die Männer sollen ihr Lager am Fluß aufschlagen. Ein Stück stromaufwärts, verstehst du? Ich will nicht, daß die Tiere womöglich vergiftetes Wasser saufen.«
Der Angesprochene nickte, wendete sein Pferd und sprengte davon, während zwei, drei der anderen Krieger umständlich von ihren Tieren stiegen und ihre Wasserschläuche von den Sattelriemen lösten, Auch Talianna überwand den kleinen Rest von Angst, den sie noch vor diesen furchterregenden Gestalten verspürte, und griff gierig zu, als ihr ein Wasserschlauch hingehalten wurde.
Sie trank sehr viel, denn ihre Kehle war vom stundenlangen Weinen ausgedörrt, und kaum hatte sie den schlimmsten Durst gelöscht, da spürte sie, wie hungrig sie war. Aber sie wagte es nicht, nach Essen zu fragen, und schließlich hatte Hraban ja gesagt, daß Denon ihnen Nahrung bringen sollte.
»Komm her zu mir, Kind«, sagte Hraban, als sie ihren Durst gelöscht und den Wasserschlauch zurückgegeben hatte. Er lächelte bei diesen Worten, aber Talianna zögerte. Nervös blickte sie zu den anderen hinüber, die gleich ihr das Wasser angenommen hatten und gierig tranken. Aber die Nervosität - nein, verbesserte sie sich in Gedanken: die Angst - auf ihren Zügen war geblieben.
»Ich... weiß nicht«, sagte sie.
Für einen ganz kurzen Moment sah Hrabans Gesicht aus, als wolle er wütend lospoltern, aber dann seufzte er nur, schüttelte den Kopf und drehte sich mit einem knappen Winken um. »Komm mit«, sagte er.
Talianna gehorchte, wenn auch erst nach einem abermaligen, sehr langen Zögern. Sie entfernten sich ein gutes Stück von den Reitern und den anderen, ehe Hraban stehenblieb und sich zu ihr umwandte. Wie zuvor ließ er sich in die Hocke gleiten, so daß ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. Ein Sonnenstrahl ließ etwas an seinem Hals aufblitzen, und als Talianna genauer hinsah, erkannte sie, daß es ein roter Stein war, geformt wie eine blutige Träne und von einem feinen Filigran aus Gold und Jade eingefaßt.
Hraban bemerkte ihren Blick. Mit spitzen Fingern hielt er den Stein hoch, soweit es das goldene Kettchen zuließ, an dem er befestigt war. »Gefällt er dir?« fragte er.
Talianna nickte. »Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen«, bekannte sie.
»Er ist sehr wertvoll«, sagte Hraban leise. Dann ließ er den Stein wieder sinken und sah sie mit plötzlichem Ernst an. »Aber jetzt erzähle. Und nur keine Angst - wir sind nicht eure Feinde, sondern wollen euch helfen.« Er bemerkte den flehenden Blick, den Talianna zu den anderen zurückwarf, und runzelte die Stirn, jetzt doch sichtlich verärgert. »Glaube bloß nicht, daß ich euch nicht verstehe«, sagte er. »Deine Leute haben alles verloren und sind fast umgebracht worden. Es wäre ja unnormal, wenn sie keine Angst hätten, sich plötzlich einer Armee von Fremden gegenüber zu sehen. Aber ich muß wissen, was passiert ist. Wir sind nicht sehr viele, und die, die eure Stadt vernichtet haben, könnten zurückkommen. Das verstehst du doch, oder?«
Talianna nickte. »Es... es waren wirklich die Drachen«, sagte sie stockend. »Ich habe die Wahrheit gesagt, Herr.«
»Drachen.« Hraban schwieg einen Moment. »Ich habe davon gehört. Aber... die meisten sagen, daß es sie gar nicht gibt. Ich bin viel herumgekommen in der Welt, aber ich habe niemals einen gesehen. Und auch keiner meiner Männer.«