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»Dieser Idiot!« brüllte Weller. »Er hat das falsche Tor geöffnet!«

Tally wollte antworten, aber sie konnte es nicht. Sie war gelähmt. Der Anblick paralysierte sie, lähmte ihren Körper, ihre Gedanken, ihre Seele. Das Boot schoß, schneller und schneller werdend, auf die sich öffnende Schleuse zu, und plötzlich begann Karan wie besessen an seinen Hebeln zu zerren und zu reißen. Immer weiter und weiter stieg ihre Geschwindigkeit. Die Schleuse jagte auf sie zu, wuchs von einer handbreiten Spalte zu einem gewaltigen klaffenden Maul und nahm für einen unendlich kurzen Moment die gesamte Welt ein.

Dann waren sie hindurch, und vor ihnen lag nichts mehr als eine halbe Meile Wasser, das so schnell dahinschoß, daß es zu Glas zu werden schien. Gischt und Donner blieben hinter ihnen zurück. Das Boot beschleunigte noch weiter, wurde schneller und schneller und schneller und schien sich schließlich gar ein Stückweit aus dem Wasser zu herauszuheben.

»Festhalten!« brüllte Karan.

Seine Worte gingen im urgewaltigen Tosen des Wasserfalles unter. Das Schiff schoß mit der Schnelligkeit eines Pfeiles in die Glocke aus sprühendem Wasser und Lärm hinein, jagte auf den Rand der Welt zu und ritt noch einen Moment auf dem glitzernden Strom, der fünfzig, hundert Meter weit ins Nichts hinausführte, ehe er sich senkte und zu feuchtem Staub wurde, der fünf Meilen weit in die Tiefe stürzte.

Dann war unter ihnen nichts mehr. Die Zeit schien stehenzubleiben. Tally sah winzige, glitzernde Wassertropfen, die schwerelos in der Luft zu schweben schienen, den gewaltigen donnernden Strom, der sie hinausgerissen hatte, die Klippe, die plötzlich nicht mehr vor, sondern für einen unendlich kurzen Moment neben und dann hinter ihnen lag, und dann...

... und dann begann sich der Bug des Schiffes langsam zu senken.

Und der Sturz in die Hölle begann.

~ ~ ~

»Dann hat sie also auch Karan und den anderen den Tod gebracht.« Die Stimme des Mädchens bebte vor Schrecken. Es war hell geworden, und das Kind war müde, so müde wie niemals zuvor in seinem Leben, aber die Worte der dunkelhaarigen Fremden hatten es so in Bann geschlagen, daß es jetzt einfach unmöglich war, einzuschlafen. Gleich, wie lange es dauerte, sie wollte sie zu Ende hören.

Nach einer Weile nickte die Frau, gleichzeitig schüttelte sie den Kopf. »Ja. Aber erst später.«

»Später?« Das Mädchen begriff nur zögernd, daß die Geschichte noch nicht zu Ende war. Gleichzeitig war es erleichtert.

»Viel später«, antwortete die Fremde. Sie lächelte, sah wieder - wie zahllose Male zuvor im Laufe dieser Nacht - zum Himmel empor und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Auch sie wirkte jetzt müde. Ihre Art zu sprechen, war in den letzten Stunden schleppender geworden. Ihre Stimme klang matt. Aber das Lächeln in ihren Augen war so sanft und warm wie zu Anfang.

»Ihre Geschichte könnte jetzt zu Ende sein«, sagte sie leise. »Möchtest du das?«

Das Mädchen überlegte nur einen Sekundenbruchteil, dann schüttelte es so heftig den Kopf, daß seine Haare flogen. Es wollte ganz entschieden nicht, daß Tallys Geschichte jetzt zu Ende war; zum einen, weil es ein Kind war, und es auf die Fortsetzung der Erzählung brannte. Aber da gab es noch einen anderen, sehr viel wichtigeren Grund, den es selbst in dieser Klarheit nicht begriff, aber sehr deutlich spürte. Ja, es hatte direkt Angst davor, daß die Fremde nun sagen könne, Tally und die anderen hätten sich zu Tode gestürzt. Es wäre eine Ende, sicher, aber kein befriedigendes. Nach der Meinung des Kindes brauchte jede Geschichte ein Ende, nicht unbedingt ein gutes, aber einen Abschluß. Eine Geschichte wie die Tallys durfte nicht so enden, denn das hätte nichts anderes bedeutet, als daß sie wahr war. Geschichten, die man sich ausdachte, endeten anders; nur die Wirklichkeit war grausam genug, eine jahrzehntelange Anstrengung zu einem Witz herabzusetzen.

Zum ersten Mal, seit das Mädchen der Fremden zuhörte, bekam sie Angst, daß Tallys Abenteuer mehr als eine Geschichte sein konnten.

»Sie haben den Schlund erreicht?« fragte das Mädchen. Seine Stimme bebte vor Angst.

Die Fremde nickte. »Das haben sie, Kind. Und mehr. Sie haben gefunden, wonach Tally gesucht hatte, all die Zeit.«

»Aber wie?« fragte das Mädchen. »Der Abgrund war fünf Meilen tief!«

»Sicher.« Zur Enttäuschung des Kindes sprach die Fremde nicht weiter, sondern stand auf, reckte ihre vom langen Sitzen steif gewordenen Glieder und gähnte ungeniert, ohne die Hand vor den Mund zu heben. Ihr Benehmen war dem Kind peinlich.

Ihre Mutter hätte sie für ein solches Betragen gescholten, und nun tat diese Frau genau das, was ihr, dem Kind, bei Strafe verboten war.

»Erzähl mir, wie es weiterging.«

Die Frau nickte. Ihr Gesicht wirkte grau vor Müdigkeit. Das Mädchen glaubte zu spüren, daß sie Angst hatte. »Sicher«, sagte sie. »Aber nicht hier!« Sie sah sich suchend um, blickte abermals in den Himmel und deutete schließlich auf den kleinen Buchenhain, der sich zwei Meilen entfernt erhob.

»Laß uns dorthin gehen«, sagte sie. »Der Tag wird heiß. Vielleicht finden wir dort drüben ein wenig Schatten und Wasser.«

Das Mädchen stand gehorsam auf, und während sie Seite an Seite den grasbewachsenen Hang hinabgingen, begann die Frau wieder zu erzählen:

»Im ersten Moment waren alle starr vor Schreck. Wahrscheinlich dachten sie an den Tod, jeder auf seine Weise, und Tally tat es ganz bestimmt. Der Sturz schien endlos zu dauern, und...

5. KAPITEL - DER SCHLUND

~ 1 ~

Tally schrie. Der Wind riß ihr die Laute von den Lippen, aber sie schrie weiter, bis ihre Kehle vor Schmerzen zu zerreißen schien. Ihr Herz jagte. Ihre Finger krallten sich mit solcher Macht in den Bootsrumpf, daß ihre Nägel brachen. Blut lief an ihren Händen herab. Sie merkte es nicht einmal.

Das Boot wurde schneller und schneller. Himmel und Erde drehten sich um sie herum; kippten nach rechts und links und oben und unten, wie in einem irrsinnigen Tanz. Die Klippe war ein Schatten in schmutzigem Grau, halb aufgelöst hinter einem Vorhang aus sprühendem Wasser, dann nur noch ein Schemen; dann nichts mehr.

Schwärze hüllte sie ein, nur durchbrochen vom Schreien der anderen und ihren verzweifelten, sinnlosen Bewegungen. Unter ihnen war das Nichts, ein entsetzlicher, fünf Meilen tiefer Abgrund, in den sie stürzten, schnell und ohne eine Chance, den Fall aufzuhalten.

Panik übermannte sie. Sie hörte Karan etwas rufen, ohne die Worte verstehen zu können, hörte Hrhons helles, angstvolles Zischen und spürte, wie Angella in ihren Händen zu zappeln begann. Ihre Hände glitten in einer Bewegung blinder Furcht an Tallys Gesicht empor und krallten sich in ihre Haut. Blut lief Tally in die Augen. Ein scharfer Schmerz schoß durch ihre linke Schläfe.

Blindlings schlug sie mit der flachen Hand zu. Angella keuchte, suchte nun gezielt mit den Fingernägeln nach Tallys Augen und handelte sich einen zweiten, weit härteren Schlag ein. Sie erschlaffte, sackte nach hinten und fiel schwer gegen Tally.

Wie lange dauerte dieser entsetzliche Sturz? dachte Tally.

Sie hatte das Gefühl, schnell wie ein Pfeil in die Tiefe zu jagen, aber ihr bizarres Gefährt wurde immer noch schneller. Der Wind schnitt wie mit Messern in ihre Augen. Sie konnte kaum mehr atmen.