Und endlich begriff sie, daß sie nicht fielen.
Sie stürzten, aber sie fielen nicht. Das Boot - das alles war, nur kein Boot!, dachte Tally entsetzt - war von der Wucht der Strömung getragen ins Nichts hinausgeschossen, aber wo der Sturz beginnen sollte, schloß sich ein jähes, aber lange nicht lotrechtes Gleiten an.
Das Brüllen des Wasserfalles blieb hinter ihnen zurück, aber dafür hüllten sie das Heulen des Windes und eisige Kälte ein, und ein hoher, pfeifender Laut, wie ihn Tally noch niemals zuvor in ihrem Leben gehört hatte. Trotzdem erinnerte er sie an etwas. Sie wußte nur nicht, woran.
Und plötzlich wurde es hell. Ihr bizarres Gefährt glitt, wie ein Vogel mit reglos ausgestreckten Schwingen auf dem Wind reitend, aus dem Schatten der Klippe heraus, und Sternenschein hüllte es ein. Es war nur ein Schimmer von Licht, aber nach der absoluten Dunkelheit zuvor glaubte Tally doch erstaunlich viele Einzelheiten zu erkennen. Vielleicht arbeiteten ihre Sinne auch nur mit größerer Schärfe, wie es oft in Momenten extremer Gefahr geschah.
Was sie sah, ließ sie an ihrem Verstand zweifeln - so heftig, daß sie für einen Moment die Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zog, in Wahrheit längst tot zu sein und dies alles nicht wirklich zu erleben. Aber es war wahr: Sie schwebten!!!
Das Boot stürzte nicht, sondern ritt auf dem Wind, steil nach vorne und zugleich ein wenig zur Seite geneigt, bockend und schüttelnd wie ein richtiges Boot auf einem richtigen, mit Wasser gefülltem See. Und trotzdem war es schwerelos, einem Papiersegler gleich, wie ihn sich Kinder bauten, aber zehn Meter lang und aus Holz - eine vollkommene Unmöglichkeit, die jeder Logik eine lange Nase drehte und sich einfach weigerte, abzustürzen, wie es sich gehörte. Sie schwebten! SIE SCHWEBTEN!!!
Obwohl sie vor Angst und Entsetzen schier den Verstand zu verlieren drohte, zwang sie sich, Angellas regloses Gewicht nach vorne zu schieben und an ihr vorbei nach rechts zu sehen. Im schwachen Licht der Sterne sah sie zum ersten Male das, was sie für ein Schiff gehalten hatte.
Es war kein Schiff. Es war nichts, was sie jemals gesehen hätte. Es war eine gigantische, im Sternenlicht knochenweiß glänzende Konstruktion aus Holz und Metall und dünnen Seilen, die so straff gespannt waren, daß sie sangen.
Der Bootsrumpf war nur ein winziger Teil des sinnverdrehenden Dings, ein schmaler, spitz zulaufender Zylinder, dessen oberes Drittel weggeschnitten worden war, und der zwischen zwei gigantische, unregelmäßige Dreiecke aus Holz eingebettet war, jedes mindestens fünfzehn Meter lang, dabei aber nicht viel stärker als ihr Arm.
Das ganze unmögliche Etwas erinnerte sie an eine gigantische Pfeilspitze.
Und es flog.
Es war unmöglich, aber es flog.
»Karan!« schrie sie über das Heulen des Windes hinweg. »Was ist das?«
Karan reagierte nicht. Wahrscheinlich hatte er ihre Worte gar nicht gehört; vielleicht hatte er auch keine Zeit zu antworten. Tally erkannte ihn nur als dunklen, formlos wirkenden Schatten vor sich, zusammengekauert und mit beiden Händen an einem der Hebel zerrend, die vor ihm aus dem Boden ragten.
Weller, der direkt hinter ihm saß, wimmerte vor Angst und hatte sich zu einem Ball zusammengerollt, der halb unter Hrhon begraben lag. Der Waga hatte Kopf und Gliedmaßen in seinen Panzer zurückgezogen und sah nun wirklich aus wie eine übergroße Schildkröte. Die einzige, die außer Tally noch einen halbwegs klaren Kopf behalten zu haben schien, war Angella; denn sie hatte sich wieder aufgerichtet und blickte an Tally vorbei in die Tiefe. Vielleicht hatte sie Tallys Schlag auch nur halb betäubt. Ihre Augen waren glasig. Blut lief aus ihrer aufgeplatzten Lippe.
»Wir sind zu schwer!« schrie Karan plötzlich. Für einen ganz kurzen Moment drehte er den Kopf, und Tally sah die Furcht in seinen Augen. »Wir stürzen!« Verzweifelt begann er an seinem Hebel zu zerren, wobei er sich mit beiden Beinen gegen den Boden stemmte, um mehr Kraft zu haben. Für einen winzigen Moment glaubte Tally, den Bug des Schiffes sich heben zu sehen. Die Sterne über ihr tanzten.
»Werft Ballast ab!« brüllte Karan. »Werft alles über Bord, was ihr könnt, oder wir zerschellen!«
Aber Tally hätte nicht einmal reagieren können, wenn sie es gewollt hätte. Das Boot war hoffnungslos überfüllt; von der Hüfte abwärts war sie eingeklemmt. Das einzige, was sie über Bord hätte werfen können, wäre Angella gewesen...
»Bei den Dämonen der Tiefe - werft irgend etwas hinaus!!« brüllte Karan mit überschnappender Stimme.
»Wir sind zu schwer!« Diesmal war der Ton in seiner Stimme Panik.
Wieder einmal war es Hrhon, der sie rettete. Der Waga steckte vorsichtig den Kopf aus seinem Panzer, sah Karan einen Moment lang ausdruckslos an - und stemmte sich mit ungeheurer Kraft in die Höhe. Das zerbrechliche Boot erbebte wie unter einem Hammerschlag. Hrhon wankte wild hin und her, durch die jähe Bewegung aus dem Gleichgewicht gebracht. Karan brüllte irgend etwas, und Hrhon griff fester zu. Das fliegende Boot hörte auf zu taumeln.
»Die Säcke, Weller!«
Weller reagierte nicht. Karan fluchte und versetzte ihm einen derben Tritt in die Rippen, und der Schmerz trieb ihn hoch. Mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht zerrte er einen der schweren Leinensäcke unter Hrhons Körper hervor, wuchtete ihn hoch und warf ihn aus dem Boot. Mit einem dumpfen Laut prallte er auf die hölzerne Schwinge, schlitterte nach hinten und verschwand in die Tiefe. Tally versuchte seinen Sturz zu verfolgen, aber er verschwand in der Dunkelheit, lange ehe er auf dem Boden aufschlug.
»Mehr!« schrie Karan. »Alle! Werft sie alle hinaus!«
»Aber wir brauchen die Ausrüstung!« rief Tally. »Du hast selbst gesagt -«
»Wenn wir nicht leichter werden, brauchen wir überhaupt nichts mehr!« unterbrach sie Karan. »Hilf ihm!«
Tally wußte hinterher selbst nicht mehr, wie sie es geschafft hatte - in der Enge des Bootes schien es unmöglich, auch nur einen Finger zu rühren; geschweige denn, die fast mannsgroßen Leinensäcke herauszuheben.
Aber irgendwie gelang es Weller und ihr, die Gepäckstücke eines nach dem anderen unter ihren Körpern hervorzuzerren und in die Tiefe zu werfen. Und schließlich war nichts mehr da, was sie abwerfen konnten.
»Wir sind immer noch zu schnell!« brüllte Karan. In seiner Stimme war nun ein deutlicher Unterton von Panik.
»Der Gleiter ist überladen! Er ist für zwei gebaut, und wir sind fünf - sechs, wenn Karan dieses Ungeheuer doppelt zählt!« Er wies mit einer Kopfbewegung auf Hrhon. »Wir werden abstürzen!«
»Aber... aber das... das tun wir doch schon!« stammelte Weller. »Wir werden sterben! Wir... wir -«
»Halt endlich das Maul, du Idiot«, unterbrach ihn Angella. »Hast du immer noch nicht begriffen, daß wir fliegen?« Sie stöhnte, hob die Hand an die aufgeplatzte Lippe und betrachtete einen Moment lang das Blut, das plötzlich auf ihren Fingern war. Dann starrte sie Tally an. »Das zahle ich dir heim, Schätzchen«, sagte sie drohend.
Tally sah sie mit einer Mischung aus Verwirrung und Zorn an. Zorn, daß Angella nicht einmal in diesem Moment aus ihrer Haut herauskonnte, und Verwirrung über das, was sie zu Weller gesagt hatte.
»Fliegen?« murmelte sie verstört. »Aber das ist... unmöglich...«
»So?« Angella schnaubte verächtlich. »Dann spring doch über Bord. Vielleicht haben wir dann eine Chance.«
Tally ignorierte ihre Worte. Einen Moment lang starrte sie Karan an, dann drehte sie sich herum, so weit es die Enge des Bootes zuließ.
»Karan, was... was ist das?« stammelte sie. »Was ist das für ein Ding?!«
»Sssauberei«, zischelte Hrhon. »Whirhr sssind verlhohren! Dasss issst Sssauberei!«
»Es ist ein Gleiter, und keine Zauberei, du blödes Fischgesicht!« schrie Karan zurück. »Und zwar einer, mit dem Karan und ihr sich die Hälse brechen werden! Wir sind noch immer zu schwer!«