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»Geschehen ist, was Karan prophezeite«, antwortete Karan. »Der Gleiter war zu schwer. Er ist abgestürzt, ohne daß Karan etwas dagegen tun konnte.« Er seufzte. Irgendwie, fand Tally, klang es wie ein Lachen. »Und du bist, wohin Karan dich bringen sollte. Im Schlund. Du wirst es bereuen«, fügte er hinzu.

Tally ignorierte den letzten Teil seiner Antwort. Ganz vorsichtig drehte sie sich in die Richtung, aus der seine Stimme kam, tastete mit den Fingerspitzen über den Boden und fühlte federnden, feuchtwarmen Widerstand. Aus einem Grund, den Tally selbst nicht in Worte zu fassen vermochte, fühlte er sich unangenehm an. Weich und pelzig, fast, als läge sie auf dem Rücken einer gigantischen Spinne. Trotzdem gelang es ihr diesmal, sich in eine halb sitzende Lage hochzustemmen, als sie es versuchte. Es war sehr warm. Die Luft roch... sonderbar. Nach Wald und Leben und noch etwas, das sie nicht kannte. Aber was immer es war, es machte ihr Angst.

»Der Drache«, murmelte sie. »Was ist mit ihm?«

Karan antwortete nicht. Es war auch nicht nötig, denn im Grund war ihre Frage überflüssig gewesen. Sie hatten alle gesehen, wie er abgestürzt war.

»Wieso ist es so dunkel?« fragte sie nervös.

Karan bewegte sich irgendwo in der Dunkelheit links neben ihr. Sie konnte ihn nicht sehen, aber die Geräusche verrieten ihr, daß er sich wie sie aufsetzte und den Arm hob, wie um eine weit ausgreifende Bewegung zu machen. Die Geräusche waren so deutlich, daß sie für einen Moment fast glaubte, ihn sehen zu können.

»Du bist im Schlund«, sagte er, als wäre dies Antwort genug. »Der Gleiter hat den Wipfel durchbrochen und ist gestürzt. Karan fürchtet, sehr tief.« Tally hörte das Schaudern in seiner Stimme. »Vielleicht bis zu seinem Grund.«

»Da wollte ich doch hin, oder?« fragte sie.

»Nein«, antwortete Karan. »Dorthin wolltest du nicht. Aber Karan weiß nicht, ob es wirklich so ist. Die Dunkelheit macht ihm Sorgen.«

»Und wieso?« Tally versuchte sich zu bewegen. Sofort begann der Boden unter ihr stärker zu zittern. Sie erstarrte wieder.

»Du solltest nicht reden«, sagte Karan ernst. - »Der Schlund hat Bewohner, die gute Augen haben, aber schlechte Ohren. Und solche, die schlechte Augen haben, aber scharfe Ohren. Der Aufprall des Gleiters hat alles Leben verjagt, aber es kann wiederkommen.«

»Und die anderen?« fragte Tally, Karans Warnung bewußt ignorierend. »Was ist mit ihnen?«

»Weller ist tot«, antwortete Karan. In seiner Stimme war nicht die geringste Spur von Mitleid. »Und auch Karan und du und Angella werden sterben. Der Waga mag eine Chance haben. Er ist stark.«

»Tot?« murmelte Tally. »Weller - tot?« Aber das war unmöglich! Sie hatte seine Stimme gehört!

»Er muß es sein«, antwortete Karan. »Er wurde aus dem Gleiter geschleudert, als er zerbrach. Du, Angella und der Waga und Karan selbst hatten Glück, aber er fiel hinaus. Wenn der Sturz ihn nicht getötet hat, so wird er sterben, ehe es hell ist.«

»Dann hast du nicht gesehen, wie er starb?« vergewisserte sich Tally. Sie empfand eine absurde Erleichterung.

Wahrscheinlich war es kindisch - aber solange sie Wellers Leiche nicht mit eigenen Augen sah, konnte sie sich wenigsten einreden, daß er noch am Leben war. Plötzlich spürte sie, daß sie Weller mehr mochte, als sie bisher zuzugeben bereit gewesen war.

»Nein«, antwortete Karan. »Aber du kannst Karans Worten glauben - der Schlund tötet jeden, der zu tief in ihn eindringt. Auch uns.«

»Wenn der Kerl nicht bald aufhört, vom Tod zu reden, nehme ich seinem verdammten Schlund die Arbeit ab«, mischte sich eine Stimme aus der Dunkelheit heraus ein, Tally sah auf und versuchte die Richtung zu erkennen, aus der Angellas Stimme gekommen war. Es gelang ihr nicht. Die sonderbare, schallschluckende Akustik ihrer Umgebung machte es fast unmöglich, irgendeine Richtung zu bestimmen.

»Angella?« fragte sie.

Ein spöttisches Lachen antwortete ihr. »Wer denn sonst? Erwartest du noch Gäste?«

»Ihr solltet still sein«, sagte Karan noch einmal. »Es ist nicht gut, hier zu viel zu reden.«

»Ach, halt das Maul«, sagte Angella grob. »Verrat uns lieber, was das hier ist.« Tally hörte Geräusche, noch immer, ohne ihre genaue Quelle bestimmen zu können, aber mit einem Male war Angellas Stimme sehr viel näher. Dann hatte sie das intensive Gefühl eines Körpers, der dicht hinter ihr war. Es war erstaunlich, dachte sie, wie rasch andere Sinne einsprangen, wenn einer ausfiel.

»Unser kleiner Liebling wird uns schon heraushauen, mit seiner Wunderwaffe, nicht wahr, Tallyschätzchen?« fuhr Angella fort. »Weiß du, wenn wir nicht schon so gut wie tot wären, käme ich jetzt glatt in Versuchung, dich umzubringen.«

Tally blickte in die Richtung, in der sie Angella spürte. »Was muß noch passieren, damit du endlich Vernunft annimmst?« fragte sie ärgerlich.

Angella lachte leise, und obwohl es ein sehr abfälliges, ja, bewußt kaltes Lachen war, war es ein Laut, der Tally auf sonderbare Weise gut tat. »Aber ich bin doch vernünftig«, sagte sie. »Wenn das nicht so wäre, wärst du jetzt tot, Liebling.«

»So?« fragte Tally spöttisch.

Sie hörte, wie Angella nickte. »Ich hätte dir dein hübsches Lockenköpfchen von den Schultern schneiden können, wenn ich gewollt hätte. Frag Karan, wer von uns als erster wach war.«

»Sssie sssagt die Whahrheit, Herrin«, wisperte Hrhon auf der anderen Seite der Dunkelheit. »Sssie whar esss, die Eusss ausss dem Ghleiter ssserrte. Kharan uhnd isss waren unter dhem Whrack eingheklemmt.«

»Stimmt das?« entfuhr es Tally.

»Es ist die Wahrheit«, antwortete Karan.

»Ich... danke dir«, sagte Tally zögernd. Sie war verwirrt. Daß Angella ihr bei der ersten sich bietenden Gelegenheit die Kehle durchschnitt, konnte sie sich vorstellen. Aber daß sie ihr das Leben rettete...?

Angella zuckte hörbar die Achseln. »Vergiß es«, sagte sie, während sie sich neben Tally auf den Boden hockte. »Ich weiß selbst nicht genau, warum ich es getan habe. Wahrscheinlich«, fügte sie nach sekundenlangem Zögern hinzu, »weil es mir zu schnell gegangen wäre. Ich will dich leiden sehen, Süße.«

»Hör endlich auf«, murmelte Tally. Aber in ihrer Stimme war kein echter Zorn mehr. Eigentlich zum erstenmal, seit sie Angella kennengelernt hatte, kam ihr zu Bewußtsein, wie jung das Mädchen mit dem Narbengesicht noch war - nicht viel mehr als ein Kind. Ein mörderisches Kind vielleicht, aber trotzdem ein Kind.

Möglicherweise hatte sie das Recht, so zu reagieren, einfach durch ihre Jugend. »Was ist das hier?« fragte sie, wieder an Karan gewandt. »Wenn wir uns schon nicht bewegen können, solange es dunkel ist, sollten wir die Zeit nutzen. Erklär uns, wo wir sind.«

»Im Schlund«, murmelte Karan niedergeschlagen.

Offenbar hatte er es aufgegeben, Tally und Angella zum Schweigen zu ermahnen. Trotzdem war in seiner Stimme ein Klang, der Tally alarmierte, obwohl sie ihn nicht einordnen konnte. »Karan weiß nicht genau, wo der Gleiter abstürzte. Der Flug war sehr schnell. Und er hat die Richtung verloren, als der Drache angriff.«

»Aber du findest sie wieder?«

»Natürlich«, antwortete Karan. »Sobald es hell ist. Wenn wir dann noch leben.«

Tally seufzte. Ein ganz kleines bißchen konnte sie Angella fast verstehen. Auch ihr begann Karans unablässiges Gerede von Tod und Sterben allmählich auf die Nerven zu gehen. Aber wahrscheinlich war es einfach seine Art, mit der Angst fertig zu werden.

»Sobald es hell ist«, sagte sie, »suchen wir Weller. Vielleicht lebt er noch.«

»Unmöglich!« widersprach Karan. »Selbst, wenn -«

»Der Wald hat unseren Aufprall gedämpft, oder?« unterbrach ihn Tally. »Warum soll er nicht ebensogut Weller aufgefangen haben?«

»Du kennst diesen Wald nicht«, sagte Karan. »Karan kennt ihn. Er weiß, wovon er spricht.«