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»Wir haben viel Zeit.«

Tally schwieg, und Angella besaß genug Gespür, die Frage kein zweites Mal zu stellen.

Sie versanken wieder in dumpfes Schweigen, das nur dann und wann unterbrochen wurde, wenn sich einer von ihnen bewegte. Sie alle sehnten den Tag herbei, aber als er dann kam, war er vor allem eine Enttäuschung.

Was Tally sah, war fremdartig und bizarr und erschreckend, aber es war nichts von alledem, was sie erwartet hatte. Es war im Grunde überhaupt nichts: ein verwaschenes Konglomerat blasser Farben und nur angedeuteter Umrisse, in das ein winziger Ausschnitt der Welt eingebettet war. Vielleicht, überlegte sie, war es mit dem Schlund wie mit vielen wirklichen großen Geheimnissen - sie verloren ihren Zauber, wenn man sie lüftete.

Die Dämmerung kam sehr schnell, aber sie nahm kein Ende, und kurz darauf begann es zu regnen: zwei Dinge, die Tally kannte, die aber hier unten, fünf Meilen näher an der Hölle, eine völlig neue Bedeutung bekamen. Die absolute Finsternis, in der Tally erwacht war, wich einem sonderbaren, graugrünen Halblicht, das nur Dinge genau erkennen ließ, die nicht mehr zwei oder drei Meter entfernt lagen. Alles Dahinterliegende war verschwommen, große finstere Umrisse mit halb aufgelösten Konturen, unwirklich und drohend zugleich. Und auch der Regen, der fast gleichzeitig mit dem Tag begann, war sonderbar: fein wie sprühender Nebel und so warm, daß Tally seine Berührung kaum spürte, ehe sie bis auf die Haut durchnäßt war.

Zusammen mit dem unwirklichen graugrünen Licht gab er ihr das Gefühl, sich unter Wasser zu befinden.

Mit einer müden Bewegung strich sie sich eine Strähne ihres naß gewordenen Haares aus dem Gesicht, drehte sich halb herum und sah Karan an. Er hockte nur wenige Meter neben ihr, halb gegen den Stamm eines Baumes gelehnt, der so absurd groß war, daß Tally erst gar nicht versuchte, seinen Umfang zu schätzen. Trotzdem konnte sie sein Gesicht nicht richtig erkennen. Es war nur ein hellerer Schatten in dem wogenden Etwas, in dem sich die Wirklichkeit aufzulösen begann. Er war verletzt, aber das waren sie alle - Kratzer, die jeder für sich genommen nicht gefährlich waren, aber an ihren Kräften zehren würden.

»Wann können wir weiter?« fragte sie.

Karan schrak sichtlich zusammen, und auch Angella, die ein Stück neben ihm hockte, blickte Tally fast erschrocken an, und Tally fügte hinzu: »Ich meine, wann wird es endlich hell! Ich habe keine Lust, hier zu überwintern, weißt du?«

»Es ist hell«, antwortete Karan knapp.

Tally blinzelte. »Willst du sagen, daß das alles ist?« fragte sie ungläubig. Sie deutete nach oben. Wo der Himmel sein sollte, erstreckte sich eine geschlossene Decke aus wucherndem Grün und Braun. Kein Himmel.

Nicht das kleinste Stückchen Himmel, dachte sie schaudernd.

»Es wird nicht heller?« vergewisserte sie sich.

»Nicht hier«, antwortete Karan. »Vielleicht später, wenn Karan eine Lichtung oder eine Schneise findet. Hier nicht. Dies hier ist das Dazwischen, von dem Karan erzählt hat. Weiter unten ist ewige Nacht. Im Wipfel herrscht Tag.«

»Dann sollten wir versuchen, in den Wipfel hinaufzukommen«, schlug Angella vor.

»Und zu sterben?« fragte Karan matt.

Angella gab einen ärgerlichen Laut von sich. »Hast du nicht vor weniger als einer Stunde behauptet, nur der Boden wäre tödlich?« fauchte sie.

»Der Schlund tötet überall«, erwiderte Karan ungerührt. »Aber an manchen Stellen tötet er schneller.« Er stand auf. Tally bemerkte, wie unsicher und langsam seine Bewegungen waren.

Auch Tally stand auf, machte einen Schritt in Karans Richtung und blieb sehr abrupt wieder stehen, als sie sah, worauf sie überhaupt ging. Für einen Moment sehnte sie die Dunkelheit fast zurück.

Der Boden war kein Boden, sondern ein erschreckend dünnes Geflecht von Ästen, ineinandergewachsenen Luftwurzeln und Blättern, ein riesiges Netz, das fest genug gewesen war, den stürzenden Gleiter aufzufangen, in dem aber gewaltige Löcher gähnten. Sie mußten ein ganzes Batallion erstklassiger Schutzengel auf ihrer Seite gehabt haben, daß während der Nacht keiner von ihnen in eine dieser Fallgruben gestolpert und in die Tiefe gestürzt war.

«Kommt her«, sagte Karan müde. »Karan zeigt euch einen sicheren Weg. Es ist nicht so gefährlich, wie es aussieht.« Er versuchte sogar zu lächeln, aber es gelang ihm nicht ganz. Als Tally näher kam, sah sie, daß sein Gesicht grau geworden war. Dann fiel ihr auf, wie unnatürlich er den linken Arm hielt.

»Was ist mit dir?« fragte sie erschrocken. »Du bist verletzt!«

»Das ist nichts«, antwortete Karan. »Es wird heilen. Jetzt kommt und folgt Karan.«

Er wollte sich umwenden und davongehen, aber Angella vertrat ihm rasch den Weg, riß ihn grob an der Schulter herum und griff nach seinem Arm. Karan keuchte vor Schmerz, als sie sein Handgelenk berührte.

»Der Arm ist gebrochen«, stellte Angella fest. »Und du sagst, das ist nichts?« Sie sah Karan vorwurfsvoll an und schüttelte den Kopf. »Hier unten kann dieses nichts deinen Tod bedeuten, alter Mann.«

»Karan wußte, daß er sterben wird, wenn er hierher zurückkehrt«, antwortete Karan, sehr leise, aber mit sehr großem Ernst. »Es spielt keine Rolle. Vielleicht... vielleicht ist es sogar gut so. Und nun kommt, ehe ihr zu Beute werdet.«

Er löste seinen Arm mit sanfter Gewalt aus Angellas Griff, sah sich suchend um und deutete in die Richtung, in der sich der zerschmetterte Gleiter als weißer Schemen in der ewigen Dämmerung erhob. »Dorthin.«

»Was ist dort?« fragte Tally.

»Norden.« Karan nickte, um seine Worte zu bekräftigen. »Du wolltest nach Norden, oder?«

»Woher willst du das wissen?« fragte Angella mißtrauisch. »Es kann genausogut Süden sein, oder Westen oder Osten.«

»Es ist Norden«, beharrte Karan. »Karan weiß es. Er wird vorausgehen. Folgt ihm in zehn Schritten Abstand. Und du, Tally, hältst deine Waffe bereit.«

Wieder wollte er losgehen, aber diesmal war es Tally, die ihn zurückhielt. »Einen Moment noch, Karan«, sagte sie. »Was soll das? Wir hatten vereinbart, Weller zu suchen, und -«

»Niemand hat das vereinbart«, unterbrach sie Karan. »Du hast es gesagt, aber es ist unmöglich.«

Er blickte sie einen Moment ernst an, aber etwas in ihrem Gesicht schien ihm zu sagen, daß sich Tally mit dieser Erklärung allein nicht zufrieden geben würde; denn nach einem weiteren Augenblick seufzte er, wandte sich um und ging an Tally vorbei bis zu einer der gewaltigen Lücken im Netzboden. »Komm.«

Tally zögerte. Allein die Darstellung, sich dem gewaltigen Schlund zu nähern, erfüllte sie mit Entsetzen. Dann überwand sie ihre Furcht und trat, wenn auch sehr vorsichtig, neben ihn. Angella und Hrhon folgten ihr.

Ein Schwall feuchtwarmer, nach Fäulnis riechender Luft schlug ihnen entgegen. Unter ihnen, entsetzlich tief unter dem Netz, glitzerte schwarzer, sumpfiger Boden, eine schier unendliche Ebene wie aus geschmolzenem Teer, auf der sich nur hier und da ein verirrter Lichtstrahl brach.

Tally schätzte, daß sie mindestens hundert Meter hoch waren. Es war ein bizarrer Anblick: sie standen buchstäblich im Nichts, achtzig oder mehr Manneslängen über dem Boden, im Herzen eines ungeheuerlichen, vor Leben schier überquellenden Waldes - aber unten ihnen war nichts. Nichts als eine Kathedrale aus Schwärze, in der die blattlosen Stämme der Riesenbäume wie titanische Stützpfeiler aufragten. Das Leben hatte den Waldboden geflohen und sich auf eine zweite, höher - und sicherer - gelegene Ebene zurückgezogen. Der Anblick war unglaublich niederschmetternd. Unter ihnen war Wald, der Urquell allen Lebens, aber etwas hatte ihn in das genaue Gegenteil davon verwandelt.

»Großer Gott«, murmelte Angella. »Wie hoch sind diese Bäume, Karan?«

»Sehr hoch«, antwortete Karan. »Über euch noch einmal so hoch wie unter euch. Dort unten ist der Tod, Angella. Wenn Weller dort hinabgestürzt ist, lebt er nicht mehr. Nichts lebt dort unten.«