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Angella schauderte sichtlich, beugte sich aber trotzdem neugierig vor und blinzelte in die Tiefe hinab. »Was ist das?« murmelte sie. »Ein Sumpf?«

Karan nickte. »Auch das«, sagte er. »Karan war nur ein einziges Mal dort unten, und er hat...« Er zögerte, sehr lange, und als er weitersprach, hatte Tally das sichere Gefühl, daß er in Wahrheit etwas ganz anderes hatte sagen wollen. »Er hat großes Glück gehabt, davonzukommen. Nichts lebt dort unten, außer den Läufern und den Bäumen.« Er sah Tally an. »Weller ist tot. Und auch du wirst sterben, wenn du ihn suchen willst, dort unten.«

Tally schwieg. Trotz der schwülen Wärme, die sie einhüllte, fror sie plötzlich wieder. Ein schlechter Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Ganz langsam stand sie auf, drehte sich herum und starrte den zertrümmerten Gleiter an. Das Gefährt hing mit zerborstenen Schwingen zwischen den Ästen, gefangen von dem ungeheuerlichen Netz, auf das sich das Leben zurückgezogen hatte, und fast bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Das Heck mit dem bizarren Ruder war verkohlt.

In diesem Moment kam es Tally mehr denn je wie ein Symbol vor - ein Symbol für das Unglaubliche, das sie geschafft hatten. Und die Sinnlosigkeit dessen, was sie noch tun wollten. Für einen Moment, einen winzigen Moment nur, war sie nahe daran, einfach aufzugeben.

Dann regte sich ihr alter Trotz wieder in ihr. Sie lächelte. »Geh voraus«, sagte sie.

~ 3 ~

Zeit hatte keine Bedeutung in der graugrünen Dämmerung des Dazwischen. Hinterher begriff Tally, daß es Stunden gewesen sein mußten, die sie Karan über den schmalen Grat zwischen Tag und Nacht gefolgt waren, aber während sie es tat, schien die Zeit einfach stehenzubleiben. Jeder Schritt war mühsamer als der vorangegangene, und es spielte keine Rolle, wie viele sie taten - ihre Umgebung war immer gleich, ein dünnes, schwankendes Netz auf halbem Wege zwischen Himmel und Hölle.

Der Regen hörte nicht auf.

Zumindest gewöhnte sie sich allmählich an die unheimliche Beleuchtung, so daß sie nach einer Weile mehr Einzelheiten erkennen konnte. Die Zwischenetage des Waldes war nicht so bar jeden Lebens, wie sie bei Tagwerden gedacht hatte - wohin sie auch blickte, huschte und bewegte es sich; es gab große, knorrige Nester voller gepanzerter Insekten, kleine pelzige Etwasse, um die Karan einen respektvollen Bogen schlug, und Kreaturen, die halb Pflanze, halb Tier zu sein schienen.

Einmal begegnete ihnen etwas, das wie ein Hornkopf aussah, nur größer, bizarrer und sehr viel wilder. Aber Karan hob nur beruhigend die Hand und ging einfach an ihm vorüber, und nach kurzem Zögern folgten ihm auch Tally und Angella. Das Rieseninsekt hockte einfach reglos da und starrte ihnen nach.

Doch es gab auch Stellen, an denen Karans Nervosität zu purer Angst wurde - so gerieten sie einmal in einen Bereich des Dazwischen, in dem die Zwischenräume zwischen den Bäumen von großen, silbern glänzenden Netzwerken ausgefüllt waren; Spinnennetze, die keine Bewohner hatten, Karan aber mit unübersehbarem Entsetzen erfüllten. Weder Tally noch Angella widersprachen, als er sie hastig aufforderte, kehrt zu machen und den Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren.

Nicht immer bewegten sie sich über das Netz. Manchmal gähnten gewaltige Löcher in dem hängenden Boden, so daß sie über die vom Regen glitschig gewordenen Äste der Riesenbäume balancieren mußten, was vor allem Hrhon vor große Probleme stellte. Und mehr als einmal waren sie gezwungen, umzukehren und zurückzugehen, um unüberwindbare Abgründe zu umgehen.

Gegen Mittag - Tally vermutete zumindest, daß es Mittag sein mußte - rasteten sie. Sie hatten keinerlei Nahrungsmittel, aber das Wasser, das noch immer unablässig aus dem lebenden Himmel über ihnen strömte, stillte zumindest ihren Durst. Angella fragte Karan, ob es jagdbares Wild im Schlund gäbe. Karan antwortete nicht einmal darauf. Nach einer Stunde gingen sie weiter.

Kurz darauf wurde es vor ihnen hell. In die dunkelgrüne Dämmerung mischte sich ein erster Schimmer von Sonnenlicht, und Karan blieb plötzlich stehen. Er sagte nichts, hob aber mahnend die Hand, als Angella und Tally zu ihm aufschlossen. Der Ausdruck auf seinen Zügen war sehr besorgt.

»Laßt den Waga vorausgehen«, befahl er.

Tally wollte widersprechen, aber Hrhon schien ohnehin nur auf dieses Stichwort gewartet zu haben.

Mit einer fast beiläufigen Bewegung schob er Karan zur Seite und balancierte über den schwankenden Boden los. Augenblicke später hatte ihn das Dickicht verschluckt.

»Was ist dort vorne?« fragte Tally. »Eine Lichtung?«

»Möglicherweise«, erwiderte Karan. Er sah sie nicht an. »Aber Licht bedeutet Gefahr. Wartet, bis der Waga zurück ist.«

Ihre Geduld wurde auf keine sehr harte Probe gestellt.

Schon nach wenigen Augenblicken tauchte Hrhon wieder aus dem grünverschlungenen Dickicht auf, erregt mit beiden Armen wedelnd und so schnell, wie es seine kurzen Beine und der schwankende Boden zuließen.

»Kohmmt!« zischte er. »Sssnell!« Er fuhr mitten im Schritt herum, wedelte wieder ungeduldig mit den Armen und lief los, noch ehe Tally und Angella ihn ganz eingeholt hatten. Und kaum eine Minute später sahen sie, was der Grund für Hrhons Erregung war: Der Wald lichtete sich stärker, und nach weniger als zwei Dutzend Schritten erreichten sie eine Stelle, an der der Himmel sichtbar war. Aber Tally sah schon auf den zweiten Blick, daß es keine natürlich entstandene Lichtung war - etwas hatte das gewaltige Blätterdach durchschlagen, Äste und Baumstämme geknickt und ein ungeheuerliches, fast kreisrundes Loch in den Wald gestanzt, ehe es hundert Meter unter ihnen zerschmettert war.

Es war der Drache.

Das Ungeheuer mußte mit der Gewalt eines vom Himmel stürzenden Sternes in den Dschungel gefallen sein.

Sein Körper war fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, zerfetzt und zerbrochen und von abgebrochenen Ästen durchbohrt wie von riesigen Pfeilen. Eine seiner Schwingen war verschwunden, das lächerlich dürre, brandgeschwärzte Knochengerüst, verdreht, aber wie durch ein Wunder noch in einem Stück, wie eine Skeletthand über den Boden ausgebreitet. Überall in den Bäumen hingen gewaltige, schwarze Hautfetzen. Selbst nach all der Zeit roch die Luft noch verbrannt.

Tally schauderte. Sie hätte Triumph empfinden müssen beim Anblick des toten Kolosses. Absurderweise war alles, was sie spürte, Angst.

Und Mitleid. Sie verstand ihre Gefühle selbst nicht, und ihre Verwirrung wuchs noch, als sie sich ihrer vollends bewußt wurde: sie hatte allen Grund, diese Ungeheuer zu hassen, und doch tat ihr der erschlagene Titan unter ihr einfach nur leid.

Eine Hand berührte sie an der Schulter. Erschrocken senkte sie die Hand zum Gürtel und fuhr herum, erkannte im letzten Moment Karan und entspannte sich sichtlich.

»Das solltest du nicht tun«, sagte sie kopfschüttelnd.

»Meine Nerven sind nicht mehr die besten, weißt du?«

»Geht vom Waldrand zurück«, antwortete Karan. »Es ist gefährlich.«

Tally sah ihn fragend an, und Karan hob die Hand und deutete nach oben. Tallys Blick folgte der Bewegung.

Und einen Moment später begriff sie, wie Karans Worte gemeint gewesen waren.

Es war nicht so, daß sie irgendwelche Einzelheiten erkannte; über ihnen spannte sich der Himmel in einem nach Stunden endloser Dämmerung fast schmerzhaft intensivem Blau, das das Blättergewirr darunter dunkler erscheinen ließ, als es war. Tally sah jetzt, daß der Wipfelbereich des Waldes eine Stärke von gut siebzig, achtzig Metern haben mußte - und er war voller Bewegung.

Nichts war wirklich zu erkennen, nichts einzeln auszumachen. Überall huschte und zuckte es, flitzten kleine und große Körper hin und her, schnappten rasiermesserscharfe Fänge oder klebrige Zungen, schlossen sich tödliche Blüten um ahnungslose Opfer...