»Weller?« Tally keuchte vor Unglauben. »Dort unten?«
Angella nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
»Ich muß mich getäuscht haben«, sagte sie, eine Spur zu hastig. »Ich... ich dachte, er wäre es, aber gleichzeitig war es...«
Sie brach ab, atmete hörbar ein und blickte unsicher an Tally vorbei nach unten. »Es war entsetzlich«, flüsterte sie. »Es war Weller, und gleichzeitig war es etwas... etwas anderes.«
»Das ist unmöglich!« mischte sich Karan ein. »Vollkommen ausgeschlossen! Dort unten lebt nichts.«
»Woher willst du das wissen?« Tally fuhr herum und starrte Karan an. »Ich denke, du warst niemals dort?«
»Karan weiß es«, beharrte Karan. »Weller kann nicht mehr am Leben sein. Er wurde aus dem Gleiter geschleudert. Wenn ihn das Feuer des Drachen nicht getötet hat, so hat es der Sturz getan. Ihr seid Meilen von der Absturzstelle entfernt. Wie soll er hierherkommen? Er muß tot sein. Und wenn nicht, so wäre es besser für ihn, er wäre tot.«
»Jetzt reicht es«, sagte Tally, sehr leise, aber voller Wut. »Vielleicht habe ich mich geirrt, als ich dich vorhin in Schutz genommen habe. Gestern wußtest du noch, daß dort unten nichts lebt. Jetzt lebt er vielleicht, aber es wäre besser für ihn, er wäre tot!« Sie trat drohend auf Karan zu. »Welches Spiel spielst du mit uns, Karan? Was ist dort unten?«
»Der Tod«, sagte Karan. »Nicht der Tod, wie du oder Angella ihn kennen, Tally. Etwas, das tausendmal schlimmer ist.«
»Das reicht mir nicht«, sagte Tally. »Ich will jetzt eine klare Antwort von dir, Karan. Sag mir, was dort unten ist, oder ich schwöre dir, daß ich hinuntergehen und nachsehen werde. Und du wirst mich begleiten.«
»Niemals!«
Tally hob schweigend die Hand, und Hrhon trat mit einem raschen Schritt hinter Karan und legte eine seiner mächtigen Pranken auf seine Schultern.
»Niemals!« beharrte Karan. Seine Stimme zitterte, und sein Blick flackerte vor Angst. Aber es war nicht die Angst vor Hrhon, das begriff Tally plötzlich. Ganz gleich, was der Waga ihm antun mochte, es konnte nicht annähernd so schlimm sein wie das, was dort unten auf sie lauerte.
»Hört auf!« sagte Angella plötzlich.
Tally starrte sie wütend an. »Misch dich nicht ein!« sagte sie. »Ich -«
»Vielleicht wirfst du einmal einen Blick nach oben«, unterbrach sie Angella, »bevor du etwas sagst, was dir später leid tut.«
Tally starrte sie eine Sekunde lang verwirrt an, hob aber den Blick und sah in den kreisrunden Flecken blauen Himmels hinauf, der über dem Wald sichtbar geworden war.
Er war nicht mehr leer. Auf dem strahlenden Azurblau waren eine Anzahl weißer, wie hingetupft wirkender Wolken erschienen. Und darüber, sehr hoch darüber, aber nicht so hoch, daß sie nicht mehr sichtbar gewesen wären, kreisten drei gewaltige, nachtschwarze Drachen.
»Das... das ist doch unmöglich«, wisperte Tally. Der Anblick lähmte sie. »Das... das kann nicht sein... Sie können nicht wissen, daß wir hier sind!«
»Das wissen sie auch nicht«, sagte Angella nachdenklich. Sie deutete nach unten, auf den toten Drachen, und sie tat es, ohne hinabzusehen, wie Tally sehr wohl registrierte. »Sie suchen das da!«
»Du hast recht...« Tally nickte - eigentlich gegen ihre Überzeugung - fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und deutete in den Wald zurück.
»Laßt uns verschwinden, ehe sie uns wirklich sehen können.«
Hastig wichen sie in die Deckung des Waldes zurück, weit genug, um von den Reitern, die zweifellos auf den Rücken der drei Drachen saßen, nicht mehr gesehen werden zu können, aber noch nicht ganz bis in den Bereich ewiger Dämmerung hinein.
»Und jetzt?« fragte sie.
Karan deutete in die grüngraue Dämmerung hinein.
»Nach Norden. Karan weiß einen sicheren Platz für die Nacht.«
Ohne ein weiteres Wort gingen sie los.
Karans sicherer Platz für die Nacht war ein Alptraum.
Stunde um Stunde waren sie durch das schwindelndmachende Halblicht der Dämmerungszone gelaufen. Mal waren sie über titanische Äste balanciert, mal hatten sie sich an jäh aufklaffenden Abgründen entlanggetastet; die meiste Zeit jedoch waren sie über das gewaltige Netz aus Pflanzenfasern und Gestrüpp gegangen, das sich hundert Meter über dem Boden spannte, einem zweiten, nach oben verlegten Waldboden gleich, eingehüllt von unheimlichem Licht und Stille und dem beständig strömenden Regen. Bald schien es Tally, als könne sie sich schon gar nicht mehr erinnern, wie es war, nicht bis auf die Haut durchnäßt zu sein und zu frieren. Aber ganz, wie Karan es prophezeit hatte, hörte der Regen nicht auf, sondern fiel unablässig, bis es dunkel wurde.
Mit dem letzten Licht des Tages schließlich erreichten sie den verbrannten Baum. Obwohl es oben über dem Wald bereits dämmerte, wurde es vor ihnen noch einmal heller; denn das Blätterdach des Wipfels war hier nicht so vollends geschlossen wie anderswo - das geschwärzte Skelett des Riesenbaumes ragte wie eine vielfingrige Knochenhand in den Himmel hinauf. Sein Stamm, der den Durchmesser eines Hauses hatte, glänzte vor Feuchtigkeit wie poliertes schwarzes Eisen, und allein sein Anblick ließ Tally einen Moment im Schritt verharren. Er wirkte... böse.
Es war nicht einfach nur ein toter Baum, dachte Tally schaudernd. Irgendwann einmal vor einem oder auch hundert Jahren mußte ihn der Blitz getroffen und gespalten haben, und irgend etwas war mit ihm geschehen, was die Rückkehr des Lebens nachhaltig verhinderte.
Auf der borkigen Rinde aus zu Stein gewordenem Holz war nicht der winzigste Flecken Moos zu sehen; keine der Millionen Parasitenpflanzen, die auf den anderen Stämmen wucherten; nichts. Der Baum war tot, und er war so nachhaltig tot, daß alles Leben seine Nähe zu fliehen schien. Selbst das Netzwerk des Dazwischen war unterbrochen. Der Baum stand inmitten des Waldes wie ein zerbrochener Riesenspeer, der in den Boden gerammt worden war. Und er war Teil jenes entsetzlichen nicht-Waldes dort tief unter ihnen. Den Hauch des abgrundtief Bösen, den sie gespürt hatte, als Karan ihr das erste Mal den Boden zeigte, fühlte sie auch jetzt. Wie einen Pesthauch, den das schwarze Monstrum ausstrahlte.
Im Nachhinein erschien es Tally wie ein Wunder, daß sie alle die waghalsige Kletterei unbeschadet überstanden hatten, die nötig gewesen war, die letzten Meter zu überwinden. Nicht, daß sie auch nur noch einen einzigen Gedanken daran verschwendet hätte, als sie es geschafft hatten... Ihre Aufmerksamkeit wurde voll von dem in Anspruch genommen, was sie in seinem Inneren erwartete ...
Sie war nicht sehr überrascht, den Baum hohl vorzufinden.
Hohl - nicht leer.
Nur wenig mehr als einen Meter unter der Stelle, an der Karan sie durch den zerborstenen Stamm führte, spannte sich ein gewaltiges, silbernweißes Spinnennetz. Seine Fäden waren absurd dünn, verglichen mit der ungeheuerlichen Größe des Gebildes - Tally schätzte seinen Durchmesser auf gut zwanzig Meter -, nicht sehr viel stärker als normale Spinnweben. Aber es waren Millarden.
»Wenn... das ein Witz sein sollte, war es kein Guter, Karan«, sagte Angella. Ihre Stimme zitterte vor Ekel.
»Was soll das?«
»Es ist ein sicherer Platz«, beharrte Karan. »Geht hinein - keine Sorge, es ist fest genug, selbst den Waga zu tragen.«
Angella keuchte. »Hinein?« wiederholte sie ungläubig. Ihre Stimme wurde schrill. »Du bist völlig übergeschnappt, was?«
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Karan ruhig. »Die Wesen, die es geschaffen haben, sind fort.«
»Es sieht ziemlich neu aus«, sagte Tally. Auch sie mußte all ihre Beherrschung aufbieten, um wenigstens äußerlich ruhig zu erscheinen. Die Vorstellung, dieses ungeheuerliche Spinnennetz zu berühren, erfüllte sie mit unbeschreiblichem Ekel. Ihre Augen begannen sich allmählich an das schwache Licht hier drinnen zu gewöhnen, und sie sah zahllose, in helle Spinnenseide eingeschlossene Kokons unterschiedlicher Größe. Beute. In manchen von ihnen bewegte sich etwas. Das Gefühl von Ekel in Tallys Magen steigerte sich zu echter körperlicher Übelkeit. Sauer schmeckender Speichel sammelte sich unter ihrer Zunge.