»Nicht«, sagte Karan hastig. »Du bist tot, wenn du sie berührst.«
Angella erstarrte mitten im Schritt. Ihr Blick irrte zwischen Karans Gesicht und der aufrecht stehenden Toten hin und her. Mißtrauen und Schrecken spiegelten sich auf ihrem verbrannten Gesicht. Das Netz war nicht mehr als ein hauchzartes, graues Gespinst. Es sah so harmlos aus. Aber es umhüllte drei Tote, und zumindest zwei davon gehörten zu gefürchtesten Kämpfern, die es auf der Welt gab.
»Glaubst du nicht, daß du uns allmählich eine Erklärung schuldig bist?« fragte Angella.
»Karan kann nichts erklären, was er selbst nicht versteht«, antwortete Karan ruhig. Er schüttelte den Kopf. »Wenn sie versuchen, euch selbst hierher zu folgen, werden sie alle sterben. Das ist alles, was er weiß.«
Plötzlich stockte er, legte den Kopf auf die Seite, wie um zu lauschen, und hob mahnend die Hand, als Angella weitersprechen wollte.
Dann hörten Tally und die anderen es auch: ein leises, metallisches Knistern, das sich in die Laute der Nacht gemischt hatte. Dann Stimmen, wie von weit, sehr seit her, von einem Geräusch wie von ferner Meeresbrandung überlagert. Und plötzlich ihr Name. Jemand rief ganz deutlich ihren Namen!
»Was ist das?« murmelte Angella. »Das... das ist Zauberei!«
Tally brachte sie mit einer ärgerlichen Geste zum Schweigen. Die Stimmen und Geräusche hielten an, und jetzt erkannte sie auch die Richtung, aus der sie kamen.
Es war keine Zauberei, wie Angella glaubte, aber vielleicht etwas, das schlimmer war. Der Ursprung der Geräusche war ein kleines, rechteckiges schwarzes Kästchen im Gürtel der Toten, auf dessen Schmalseite ein grünes Licht aufgeflammt war. Tally streckte die Hand danach aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, als ihr Karans Warnung einfiel.
Unschlüssig betrachtete sie das Kästchen. Es glich dem sonderbaren Ding, in das Jandhi hineingesprochen hatte, als Angella sie und Tally im Schuppen überraschte. Und mit einiger Phantasie konnte man aus den verzerrten, von knisternden und pfeifenden Lauten halb überlagerten Worten auch Jandhis Stimme heraushören.
»Talianna, melde dich endlich! Ich weiß, daß du in der Nähe bist.«
»Das ist Zauberei!« beharrte Angella. Ihre Hand senkte sich auf das Schwert. »Sie kann uns nicht sehen! Niemand kann wissen, daß wir hier sind!«
»Sie schon«, antwortete Tally. Sie war nicht einmal besonders erschrocken. Mit der Spitze ihres Schwertes deutete sie auf den sprechenden Kasten im Gürtel der Toten. »Ein ähnliches Ding habe ich bei Jandhi gesehen.«
»Du wirst bald überhaupt nichts mehr sehen, wenn du nicht antwortest, Tally!« drang die Stimme aus dem Kasten.
Angella stieß einen krächzenden Laut aus und sprang ganz instinktiv zwei, drei Schritte zurück, während Tally den sonderbaren Apparat nur mit milder Verwunderung musterte. Offensichtlich übertrug er nicht nur Jandhis Stimme, sondern hörte auch jedes gesprochene Wort in einiger Umgebung.
»Jandhi?« fragte sie.
»Nett, daß du dich noch an mich erinnerst«, antwortete der Kasten mit Jandhis Stimme. »Wo bist du?«
Tally lachte unsicher. »Eine gute Frage. Ich denke, du weißt es?«
Jandhi schnaubte ärgerlich. »Was ist mit Kehla? Ist sie tot?«
»Wenn du das Mädchen mit den beiden Hornköpfen meinst, das du hergeschickt hast - ja«, antwortete Tally.
»Hast du sie umgebracht?«
»Das war nicht nötig. Du schickst deine Leute in den Tod, Jandhi. Gib endlich auf.«
»Seltsam«, antwortete Jandhi. »Dasselbe wollte ich dir auch gerade raten. Das Versteckspiel mit dir kommt mich allmählich zu teuer. Ich habe mehr Leute bei der Jagd auf dich verloren als in den vergangen zwei Jahren beim Kampf gegen Angellas Halsabschneider. Gib auf.«
»Und wenn nicht?« fragte Tally.
»Dann töte ich dich«, antwortete Jandhi. »Ich habe den Auftrag, dich unschädlich zu machen, ganz egal, wie. Ich wollte dich lebend fangen, aber du läßt mir keine Wahl. Ich gebe dir noch genau fünf Minuten, dich zu ergeben. Kommt nach oben. Wir werden euch aufnehmen.«
Irgend etwas bewegte sich über dem Wald; etwas ungeheuer Großes und Finsteres, das die Lücke im Blätterdach für den Bruchteil eines Herzschlages verdunkelte. Und dann begriff Tally...
»Um Himmels willen!« schrie sie. »Weg! WEG HIER!«
Ein sanftes, düsterrotes Glühen vertrieb die Schwärze der Nacht, als sie herumfuhr und davonstürzte, Angella und Karan einfach mit sich zerrend. Mit jedem Schritt, den sie taten, nahm es an Leuchtkraft und Gewalt zu, steigerte sich zu Orangerot, dann zu Gelb...
Die Zeit schien stehenzubleiben. Tally rannte wie von Furien gehetzt, blindlings, nur fort, fort von den drei Toten und dem sprechenden Kasten, die zu einer mörderischen Falle geworden waren. Aber das Licht und die Hitze folgten ihnen, schneller, viel schneller, als sie zu laufen vermochten. Eine brüllende Feuerwolke stieß durch das Blätterdach des Schlundwaldes, loderndheißer Drachenatem, der Holz und Blattwerk und alles Leben versengte und in Sekundenbruchteilen zu Asche verbrannte.
Eine glühende Hand schien ihren Rücken zu streicheln. Tally schrie vor Schmerz auf, ließ Angellas Hand los und fiel. Die Luft kochte. Unsichtbares Feuer verbrannte ihre Lungen, als sie zu atmen versuchte. Durch einen Schleier aus Tränen sah sie, wie die Flammenwolke tiefer in den Wald hinabstieß. Die Gestalten der beiden Hornköpfe und des Mädchens lösten sich auf, zerfielen zu Asche. Die Hitze war unbeschreiblich. Flammen züngelten aus dem Bodennetz, leckten knisternd aus Baumstämmen und Geäst und versengten Blattwerk und Blüten.
Angella riß sie in die Höhe. Ihr Haar schwelte. Ihr Gesicht war verzerrt, und Tally sah, wie sich ihre Lippen bewegten, als sie irgend etwas schrie. Die Worte gingen im Brüllen der Flammen unter. Angella versetzte ihr einen Stoß, der sie weitertaumeln ließ, fuhr noch einmal herum und riß Karan vom Boden hoch.
Hinter ihnen begann das Netz zu zerfallen. Mit einem Geräusch wie von Peitschenhieben zersprangen die fingerdicken Pflanzenfasern. Der Brand breitete sich aus.
Die Nacht verwandelte sich in eine Hölle aus Hitze und Lärm und zuckenden roten und gelben Lichtblitzen.
Und es begann erst.
Dem ersten Flammenstrahl folgte ein zweiter. Er war nicht so gut gezielt wie der erste und traf weit von ihnen entfernt in das Wipfeldach, aber der Wald erbebte wie unter einem Hammerschlag; dem Krachen und Bersten des Feuers folgte ein schriller Chor panikerfüllter Tierstimmen. Grellrotes Licht tauchte den Himmel in Blut.
»Sie... sie verbrennen den ganzen Wald!« schrie Angella über das Brüllen der Flammen hinweg. »Das war eine Falle, Tally!«
Tallys Antwort ging im Brüllen einer dritten, diesmal sehr viel näheren Explosion unter. Für einen Moment glaubte sie, den gesamten Wald unter ihren Füßen erbeben zu fühlen. Eine unsichtbare warme Hand streichelte ihr Gesicht.
Gehetzt sah sie sich um. Wo die Nacht nicht von Hammenschein durchbrochen wurde, war die Dunkelheit vollkommen. »Karan! Wir müssen hier weg! Gibt es ein Versteck? Irgend etwas, wo wir sicher sind?«
Wie zur Antwort senkte sich zum vierten Male das Feuer der Drachen auf den Wald. Irgendwo, nicht sehr weit von ihnen entfernt, flammte ein Baum vom Wipfel bis zu den Wurzeln hinab auf und brannte sich für einen Moment als brüllende Feuersäule in die Nacht, ehe er zerbrach. Angella hatte recht, dachte Tally entsetzt.
Jandhi schien entschlossen zu sein, den gesamten Wald niederzubrennen!
»Dorthin!« Tally deutete in die Richtung, in der die beiden ersten Blitze in den Wald geschlagen waren, und rannte los, ohne den anderen Gelegenheit zum Widerspruch zu geben. Es war der schiere Wahnsinn - der Wald brannte, und das Feuer nahm zu, in der Richtung, in der sie lief. Und doch war es wahrscheinlich ihre einzige Chance.
Jandhi konnte nicht wissen, wo sie waren. Vermutlich hatte sie mit ziemlicher Genauigkeit gewußt, wo das sonderbare Sprechgerät war, und es anvisiert - und das war wohl auch der einzige Grund, aus dem sie mit Tally gesprochen hatte. Jetzt ließ sie ihre Drachen offensichtlich wahllos Feuer in den Wald speien.