Sie lief etwas langsamer, um Karan und vor allem Hrhon Gelegenheit zu geben, zu ihr aufzuschließen. Die Nacht war mittlerweile vollends einem unruhigen Flackern oder Rot und Orange gewichen. Der Wald war in Panik. Überall brannte es. Schatten huschten hin und her. Etwas Großes, Stacheliges streifte Tallys Wade und verschwand in kopfloser Flucht in der Nacht. Ein Blatt klatschte wie eine große nasse Hand in ihr Gesicht. Sie schlug es zur Seite, sprang über ein mannsbreites Loch im Netz hinweg und kam federnd auf. Ein brennender Ast löste sich aus dem Wipfeldach über ihren Köpfen, prallte dicht neben Angella auf und setzte den Boden in Brand. Angella versuchte die Flammen auszutreten, aber es gelang ihr nicht.
»Sinnlos!« keuchte Tally. »Karan! Der hohle Baum - weißt du die Richtung?«
Karan nickte, und Tally versetzte ihm einen Stoß zwischen die Schultern, der ihn in die Richtung stolpern ließ, in die er gedeutet hatte.
Es war ein Wettlauf gegen den Tod, und noch bevor sie die halbe Strecke zurückgelegt hatten, begriff Tally, daß sie ihn verlieren würden. Die Drachen fuhren fort, Feuer in den Wald zu speien, und sie taten es nicht so wahllos, wie sie im ersten Augenblick angenommen hatte. Die Flammen folgten ihnen, nicht sehr gut gezielt, aber zu dicht, als daß es bloßer Zufall sein konnte. Zwei- oder dreimal entgingen Tally und die anderen dem Höllenfeuer nur um Haaresbreite. Die Hitze stieg, bis sie kaum mehr atmen konnten.
Und dann, ganz plötzlich, hörte es auf. Der Wald brannte weiter, denn das Höllenfeuer der Drachen mußte buchstäblich Hunderte von einzelnen Bränden entfacht haben, und das Feuer griff nun auch von selbst um sich, aber aus dem Himmel regneten keine weiteren Flammen mehr.
Tally blieb schwer atmend stehen. Ihre Hand spielte nervös mit dem Laser, den sie gezogen hatte. Der unsichtbare Schutzwall, der sie bisher umgeben hatte, war zerbrochen. Auch in ihrer unmittelbaren Nähe kroch und huschte und krabbelte es jetzt überall; Kreaturen, wie sie Tally noch nie zuvor im Leben gesehen hatte und die nur eine einzige Gemeinsamkeit zu haben schienen - sie waren ausnahmslos häßlich, und schienen ausnahmslos nur aus Zähnen und Krallen zu bestehen.
Trotzdem kam ihnen keiner dieser mörderischen Waldbewohner wirklich nahe, und wenn, dann nur durch Zufall. Die Angst vor dem Feuer war stärker als Hunger und Jagdinstinkt. Sie befanden sich inmitten einer gewaltigen, panikerfüllten Flucht.
Karan deutete nach vorne. »Dort entlang. Es ist nicht mehr weit.«
Sie hasteten weiter. Ein brennender Baum verwehrte ihnen den Weg. Sie umgingen ihn, balancierten über schwelende Äste und unter einem Baldachin aus Flammen dahin, vorbei an gewaltigen, rauchenden Löchern, die plötzlich im Boden entstanden waren...
Tally erinnerte sich hinterher nicht mehr an alle Einzelheiten ihrer bizarren Flucht. Obwohl die Drachen aufgehört hatten, Flammen zu speien, nahm das Feuer zu, Jandhis Angriff hatte einen Waldbrand verursacht, der vielleicht den gesamten Schlund erfassen mochte, zumindest aber den Teil des Waldes, in dem sie waren.
Aber ihre allerschlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht - der hohle Baum stand noch, und er schien sogar unversehrt zu sein. Seine nackten, zu Stein gewordenen Äste streckten sich wie eine verkohlte Kralle mit zu vielen Fingern in den Himmel.
Tally erstarrte, als sie die Drachen sah.
Es waren unglaublich viele... zwanzig, dreißig, vielleicht fünfzig der titanischen schwarzen Kreaturen, die wie ein Schwarm übergroßer häßlicher Krähen über dem Wald kreisten. Dann und wann stieß eines der schwarzen Ungeheuer herab, wie ein Adler, der eine Beute erspähte. Aber das gefürchtete Feuer blieb aus, und die Drachen war zu hoch und zu weit entfernt, als das Tally erkennen konnte, was sie wirklich taten.
»Bei den Dämonen der Tiefe, Tally - wer bist du eigentlich?« flüsterte Angella. Ihre Stimme klang eher ehrfurchtsvoll als erschrocken. »Was hast du getan, daß sie dich mit all ihrer Macht verfolgen.«
»Das beginne ich mich allmählich selbst zu fragen«, murmelte Tally. »Vielleicht... nimmt es mir Jandhi einfach nur übel, daß ich sie blamiert habe.«
Sie lachte, aber es klang nicht sehr echt, und Angella antwortete gar nicht darauf. Statt dessen blickte sie konzentriert zu den kreisenden Drachen hinauf.
»Irgend etwas geht dort vor«, murmelte sie. »Sie... großer Gott! Schaut euch das an!«
Tally und Karan erkannten im gleichen Moment, was Angella gemeint hatte. Von den riesigen, dreieckigen Schatten der Drachen begannen sich winzige dunkle Punkte zu lösen; schwarzer Regen, der absurd langsam in die Tiefe fiel und dabei auseinanderfächerte.
»Hornköpfe...«. murmelte Angella. »Verdammter Dreck, Tally - das sind Hornköpfe! Hunderte!«
Tally antwortete nicht, aber sie wußte, daß Angella nur zu recht hatte. Warum hatte sie diese Möglichkeit nicht selbst in Betracht gezogen, verdammte Närrin, die sie war?! Der schwarze Regen war mittlerweile tief genug gefallen, daß sie die großen, mattglänzenden Chitinkörper erkennen konnte, aus denen er in Wahrheit bestand - eine Armee ins Absurde vergrößerter, fliegender Käfer, die sich auf den brennenden Wald herabsenkte, blitzenden Stahl in den Händen.
Plötzlich begriff sie, daß Jandhi nicht ernsthaft erwartet hatte, sie und die anderen zu verbrennen - das Feuer hatte nur dem Zweck gedient, alles Leben aus dem Wipfelwald zu vertreiben. Jandhi hatte aus dem Schicksal ihrer Kriegerin und der beiden Hornköpfe gelernt.
»Auf jeden Fall nehme ich noch ein paar von diesen Bestien mit«, versprach Angella. »Lebend bekommen sie uns nicht.«
»Sie bekommen uns überhaupt nicht«, antwortete Tally. Ihre Stimme klang matt, gleichzeitig sehr entschlossen. Sie erschrak selbst, als sie ihren Klang hörte.
»Nein?« Angella lachte bitter. »Dann verrate mir, wohin wir noch fliehen sollen!« Wütend hob sie den Arm und machte eine weit ausholende Bewegung. Der Wald brannte, in welche Richtung sie auch wies. Das Feuer der Drachen hatte einen meilenbreiten Ring in den Wipfel gebrannt.
»Eine Richtung gibt es noch.« Tally drehte sich langsam herum und wies erst auf Karan, dann nach unten.
»Du kennst den Weg.«
»Nein!« sagte Karan. Es klang wie ein Schrei.
Tally lächelte. Ganz langsam hob sie den Laser, richtete den Lauf auf Karans Stirn und senkte den Daumen auf das rote Auge in seinem Griff.
Für die Dauer von zwei, drei endlosen schweren Herzschlägen starrte Karan sie nur an. Und irgend etwas in ihrem Blick schien in davon zu überzeugen, daß sie es ernst meinte.
»Du weißt nicht, was du tust«, sagte er.
Tally schwieg. Und nach einigen weiteren Sekunden drehte sich Karan wütend herum und deutete auf den versteinerten Baum. »Folgt mir.«
Der Abstieg hatte nicht einmal sehr lange gedauert.
Karan hatte sie ein Stückweit zurück in den Wald geführt, bis sie eine Stelle erreichten, an der einer der Baumgiganten gestürzt war, vom Blitz, vielleicht auch von einer der gigantischen Läufer-Kreaturen gefällt, deren Schritte sie in der ersten Nacht so in Furcht versetzt hatten. Der Baum war nicht vollends niedergebrochen: seine Äste hatten sich im Gewirr des Wipfelwaldes verfangen, so daß sie über den Stamm wie über eine schräge, mit einiger Vorsicht aber durchaus begehbare Rampe nach unten gelangen konnten.
Tally sah sich schaudernd um. Über ihren Köpfen brannte es noch immer. Der Himmel über dem Wald loderte noch immer rot im Widerschein der Flammen.
Hier unten aber, hundert Meter unter der Ebene, auf die sich das Leben auf der Flucht vor dem namenlosen Schrecken des Schlundes zurückgezogen hatte, herrschte ein sonderbares, dunkelgraues Licht, das Tally mit Unbehagen erfüllte; einem fast körperlichen Unwohlsein, gegen das sie wehrlos war. Je intensiver sie versuchte, sich dagegen zu wehren, desto stärker schien es im Gegenteil zu werden. Es war ein Licht, das an Krankheit und Fäulnis erinnerte.