„Ich weiß gar nicht, was Sie damit sagen wollen. Es gibt keine anderen Städte. Nur noch einige Bergwerkssiedlungen, die nicht innerhalb der Mauer angelegt werden konnten. Aber keine anderen Städte.“
Jason war ehrlich überrascht. Er hatte sich immer eingebildet, auf diesem Planeten müsse es mehrere Städte geben. Plötzlich fiel ihm auf, daß er noch viel über Pyrrus dazulernen mußte. Seit der Landung hatte er sich eigentlich nur mit der Frage beschäftigt, wie er in dieser Umgebung am Leben bleiben konnte. Jetzt wollte er einige Auskünfte einholen — aber bestimmt nicht von seinem mürrischen achtjährigen Leibwächter. Schließlich kannte er einen Mann, der alle Fragen beantworten konnte, die er stellen wollte.
„Kennst du einen Mann namens Kerk?“ fragte er den Jungen. „Er ist der pyrranische Botschafter auf einer Anzahl von Planeten, aber sein Nachname…“
„Natürlich, jeder kennt Kerk. Aber er hat immer viel zu tun, deshalb sollten Sie ihn nicht bei der Arbeit stören.“
Jason drohte ihm mit dem Zeigefinger. „Grif, du bist mir nur als Leibwächter zugeteilt. Aber das heißt noch lange nicht, daß ich mir von dir Vorschriften machen lassen muß. Du kannst weiter auf die Jagd gehen, während ich Kerk einen Besuch abstatte. Einverstanden?“
Sie flüchteten sich in den Eingang eines Gebäudes, um vor einem Gewitter Schutz zu suchen, das von einem Schauer faustgroßer Hagelkörner begleitet war. Als sie sich wieder ins Freie wagen konnten, führte Grif Jason zu einem der größeren, zentral gelegenen Gebäude. Dort arbeiteten wesentlich mehr Menschen, und einige von ihnen sahen sogar einen Augenblick von ihrer Arbeit auf, um Jason zu begutachten. Jason kletterte mühsam in den zweiten Stock hinauf, bevor sie eine Tür mit der Aufschrift KOORDINATION UND VERSORGUNG erreicht hatten.
„Ist das Kerks Büro?“ fragte Jason.
„Stimmt“, antwortete Grif mürrisch. „Er ist dafür verantwortlich.“
„Ausgezeichnet. Du kannst jetzt nach Hause gehen oder dir einen Bonbon kaufen, bevor du mich in ein paar Stunden wieder abholst. Ich nehme an, daß Kerk schon auf mich aufpassen wird.“
Der Junge überlegte kurze Zeit, wandte sich dann zur Treppe und verschwand wortlos. Jason fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und stieß die Tür auf.
In dem Büro saßen fünf oder sechs Männer und arbeiteten. Keiner von ihnen sah auf, als Jason hereinkam, oder fragte ihn, was er hier wollte. Auf Pyrrus hatte alles seinen Zweck. Wenn er hierher kam, mußte er seine guten Gründe dafür haben. Deshalb kam niemand auf den Gedanken, ihn nach seinen Wünschen zu fragen. Jason, der an die kleinliche Bürokratie anderer Planeten gewöhnt war, blieb einige Minuten lang wartend stehen, bevor er begriff, was er zu tun hatte. Das Büro hatte nur noch eine weitere Tür in der gegenüberliegenden Wand. Er schlurfte darauf zu und öffnete sie.
Kerk sah von seinem Schreibtisch auf, der mit Papieren übersät war. „Ich habe mich schon gefragt, wann Sie bei mir auftauchen würden“, sagte er.
„Wahrscheinlich wesentlich früher, wenn Sie mich nicht daran gehindert hätten“, antwortete Jason und ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Mir ist endlich aufgegangen, daß ich den Rest meines Lebens in Ihrem Kindergarten verbringen würde, wenn ich nicht selbst etwas dagegen unternahm. Hier bin ich also.“
„Wollen Sie wieder zu den ›zivilisierten‹ Planeten zurückkehren, nachdem Sie jetzt genug von Pyrrus gesehen haben?“
„Nein, keineswegs“, widersprach Jason. „Aber ich habe es allmählich satt, daß jeder mich fragt, wann ich wieder abfliege. Ich glaube fast, daß Sie und die übrigen Pyrraner etwas vor mir verbergen wollen.“
Kerk lächelte bei dem Gedanken daran. „Was sollten wir zu verbergen haben? Ich bezweifle, daß es einen anderen Planeten gibt, auf dem das Leben in so einfachen und geradlinigen Bahnen verläuft.“
„Wenn das stimmt, haben Sie doch bestimmt nichts dagegen einzuwenden, einige einfache und geradlinige Fragen über Pyrrus zu beantworten?“
Kerk wollte protestieren, lachte dann aber doch. „Gut gemacht. Ich hätte wissen müssen, daß man mit Ihnen nicht diskutieren kann. Schön, was wollen Sie wissen?“
Jason versuchte es sich auf dem harten Stuhl behaglich zu machen, gab aber schließlich auf. „Wie groß ist die Bevölkerung Ihres Planeten?“ erkundigte er sich.
Kerk zögerte fast unmerklich, bevor er antwortete. „Ungefähr dreißigtausend. Das ist nicht sehr viel für einen Planeten, der schon so lange besiedelt ist, aber die Gründe dafür sind wohl offensichtlich genug.“
„Gut, die Bevölkerung beträgt also dreißigtausend Menschen“, sagte Jason. „Wie steht es mit der Kontrolle der Planetenoberfläche? Ich war einigermaßen überrascht, als ich hörte, daß diese Stadt innerhalb des Schutzwalls die einzige auf Pyrrus ist. Die Bergwerkssiedlungen brauchen wir dabei nicht zu berücksichtigen, weil sie unbedeutend sind. Glauben Sie, daß die jetzige Bevölkerung einen größeren Teil der Oberfläche des Planeten kontrolliert als in vergangenen Zeiten?“
Kerk griff nach einem Stück Stahlrohr auf seinem Schreibtisch, das er als Briefbeschwerer benützte, und spielte gedankenverloren damit. Das dicke Rohr verbog sich unter seinen Händen wie Wachs, als er die Frage zu beantworten versuchte.
„Das kann ich nicht ohne weiteres sagen. Vermutlich gibt es darüber Statistiken, die ich aber nicht kenne. Das hängt alles von so vielen Faktoren ab…“
„Lassen wir das vorläufig“, meinte Jason. „Ich habe noch eine andere Frage, die eigentlich wichtiger ist. Stimmt es, daß die Bevölkerung ständig von Jahr zu Jahr abnimmt?“
Das Stahlrohr prallte klirrend gegen die Wand hinter Jasons Kopf. Dann stand Kerk mit vor Zorn gerötetem Gesicht vor ihm.
„Das dürfen Sie nicht sagen!“ brüllte er. „Sagen Sie das nie wieder, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist!“
Jason blieb unbeweglich sitzen und sprach langsam weiter, wobei er jedes Wort sorgfältig abwog. Schließlich hing sein Leben davon ab.
„Sie brauchen nicht wütend zu sein, Kerk. Ich konnte nicht wissen, daß das ein wunder Punkt ist. Erinnern Sie sich denn nicht daran, daß ich auf Ihrer Seite stehe? Ich kann darüber sprechen, weil Sie mehr gesehen haben als die Pyrraner, die ihren Planeten noch nie verlassen haben. Sie wissen den Wert einer freundschaftlichen Diskussion eher zu schätzen. Sie wissen, daß Wörter nur Symbole sind. Wir können uns doch unterhalten, ohne gleich bei jedem Wort in die Luft zu gehen…“
Kerk ließ sehr langsam die Hände sinken und trat einen Schritt zurück. Dann drehte er sich um und goß sich ein Glas Wasser aus einer Flasche auf seinem Schreibtisch ein. Während er trank, kehrte er Jason den Rücken zu.
In dem Raum war es brütend heiß, aber Jason wußte, daß er nicht nur deshalb Schweißperlen auf der Stirn hatte.
„Ich… muß mich bei Ihnen entschuldigen, daß ich so unbeherrscht war“, sagte Kerk und ließ sich schwer in seinen Sessel fallen. „Das passiert mir wirklich nicht oft. Aber die viele Arbeit in der letzten Zeit hat mich einige Nerven gekostet.“ Er erwähnte nichts von dem, was Jason vorher gesagt hatte.
„Nichts zu entschuldigen“, versicherte Jason ihm. „Ich brauche nur daran zu denken, in welchem Zustand ich mich befunden habe, als wir hier gelandet waren. Ich muß schließlich doch zugeben, daß Sie recht gehabt haben, als Sie mir die hiesigen Verhältnisse beschrieben. Sie sind schlimmer als auf jedem anderen Planeten, den ich bisher gesehen habe. Und nur geborene Pyrraner können hier überleben. Ich komme einigermaßen zurecht, weil ich eine gute Ausbildung hinter mir habe, aber allein auf mich gestellt hätte ich nicht die geringsten Aussichten. Sie wissen wahrscheinlich, daß ich einen achtjährigen Leibwächter habe. Das allein kennzeichnet bereits meine Stellung hier.“
Kerk kniff nachdenklich die Augen zusammen. „Eigenartig, daß Sie das sagen. Ich hätte nie geglaubt, daß Sie zugeben würden, jemand könnte Ihnen überlegen sein. Sind Sie denn nicht deshalb nach Pyrrus gekommen? Um zu beweisen, daß Sie sich mit jedem Pyrraner messen können?“