„Wie ist es deiner Meinung nach zu dieser Trennung zwischen den beiden Gruppen gekommen?“ erkundigte sich Rhes.
„Das wird sich vermutlich nie mehr genau feststellen lassen“, antwortete Jason. „Aber ich glaube, daß eure Vorfahren — zu denen einige Männer mit Psi-Kräften gehört haben müssen — während einer Naturkatastrophe von den übrigen Siedlern abgeschnitten wurden. Damals müssen sie sich instinktiv so verhalten haben, daß sie überlebten. Und diese Tatsache allein hat wahrscheinlich den Zwist mit den Städtern hervorgerufen, für die Gewaltanwendung der einzig richtige Weg zu sein schien.“
„Ich kann das alles noch immer nicht glauben“, warf Kerk ein. „Es klingt durchaus logisch, aber trotzdem unbegreiflich. Irgendwie muß es eine andere Erklärung geben.“
Jason schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Eine andere wäre nicht stichhaltig. Ich verstehe, daß Sie mir nicht ohne weiteres Glauben schenken können, denn im Grunde genommen habe ich ein Naturgesetz umgestoßen. Sie wollen Beweise sehen, Kerk, habe ich recht? Nun, vielleicht kann ich Ihnen einen überzeugenden Beweis liefern.“
Jason wandte sich an Naxa. „Hörst du die Tiere, die draußen um das Schiff flattern? Das sind allerdings nicht die Arten, die du kennst, sondern die Mutationen, die nur einen Lebenszweck haben — angreifen und töten.“
„Stimmt, dort draußen sind jede Menge“, gab Naxa zurück. „Sie suchen nur nach einem Opfer.“
„Könntest du eines der Tiere fangen?“ frage Jason. „Ohne dabei den Tod zu finden, meine ich?“
Naxa machte eine wegwerfende Handbewegung, als er hinausging. „Das Tier muß erst noch geboren werden, das mir etwas antut.“
Sie warteten schweigend auf Naxas Rückkehr. Jason hatte nichts mehr hinzuzufügen. Er konnte nur den Beweis für seine Theorie erbringen; dann mußte jeder daraus seine eigenen Schlüsse ziehen.
Der Redner kam schon kurze Zeit später mit einem Stechflügel zurück, den er an einem Bein mit einem Lederriemen gefesselt hatte. Das Tier flatterte und kreischte, aber Naxa ließ sich nicht beeindrucken.
„Du darfst den anderen damit nicht zu nahe kommen“, mahnte Jason. „Kannst du ihm gut zureden, damit er nicht flattert und irgendwo ruhig sitzt?“
„Reicht meine Hand?“ fragte Naxa und ruckte an dem Lederriemen, bis das Tier sich auf seinem Handschuh niederließ. „So habe ich es nämlich auch gefangen.“
„Zweifelt jemand daran, daß Naxa einen echten Stechflügel auf der Hand hält?“ fragte Jason.
„Das Ding ist echt“, sagte Brucco. „Ich rieche das Gift in den Flügelklauen bis hierher.“ Er wies auf die dunklen Flecken auf dem Leder. „Wenn sich das durch den Handschuh frißt, hat der Mann die längste Zeit gelebt.“
„Das Tier ist also echt und gefährlich wie alle anderen“, stellte Jason fest. „Meine Theorie ist bewiesen, wenn auch die Städter es wie Naxa berühren können.“
Die vier Pyrraner aus der Stadt wichen unwillkürlich zurück, als Jason diesen Vorschlag machte. Jeder von ihnen wußte, daß ein Stechflügel den sofortigen Tod bedeutete. Früher, jetzt und in Zukunft. Naturgesetze lassen sich nicht ändern. Meta drückte aus, was sie alle empfanden.
„Wir… wir können es nicht. Der Mann dort lebt ständig im Urwald und ist selbst ein halbes Tier. Irgendwie hat er gelernt, mit welchen Tricks man sie anfassen kann. Aber von uns darfst du das nicht erwarten, Jason.“
Jason antwortete ruhig, bevor der Redner auf die Beleidigung reagieren konnte. „Natürlich erwarte ich das von euch. Das ist überhaupt der springende Punkt bei der ganzen Sache. Wenn ihr das Tier nicht haßt und keinen Angriff erwartet, benimmt es sich auch ganz manierlich. Denkt einfach, ihr hättet ein Lebewesen von einem anderen Planeten vor euch, das völlig harmlos ist.“
„Ich kann nicht“, sagte Meta. „Es ist doch ein Stechflügel!“
Während sie sprachen, trat Brucco einen Schritt vor und hielt die Augen auf das Tier gerichtet, das auf dem Handschuh des Grubbers saß. Jason machte den Armbrustschützen ein Zeichen damit sie nicht schossen. Brucco blieb in sicherer Entfernung stehen und starrte den Stechflügel an. Das Tier bewegte die Flügel und zischte den Mann leise an. Aus den Klauen trat ein Tropfen Gift aus. Tödliches Schweigen erfüllte den Raum.
Brucco hob langsam die Hand. Er streckte sie aus und hielt sie über den Kopf des Tieres. Die Hand sank herab, fuhr einmal leicht über den häßlichen Kopf und wurde rasch wieder zurückgezogen. Das Tier hatte sich kaum bewegt.
Jason atmete erleichtert auf.
„Wie hast du das geschafft?“ erkundigte Meta sich erstaunt.
„Hmm, was?“ sagte Brucco, der erst jetzt wieder aufzuwachen schien. „Oh, wie ich das Tier angefaßt habe? Eigentlich ganz einfach. Ich habe mir vorgestellt, ich hätte einen Stechflügel aus Holz vor mir, wie sie zu Trainingszwecken benützt werden. Ich habe mich ausschließlich auf diesen Gedanken konzentriert und es hat geklappt.“ Er sah auf seine Hand herab und warf dann einen Blick auf den Stechflügel. Seine Stimme klang verändert, als er weitersprach. „Dabei ist es aber keine Imitation, wißt ihr. Das Tier ist echt und tödlich gefährlich. Jason hat recht. Ich glaube ihm jedes Wort.“
Nachdem Brucco einen erfolgreichen Versuch unternommen hatte, näherte sich jetzt Kerk dem Tier. Er ging so steif, als befinde er sich auf dem Weg zur Hinrichtung. Aber er dachte keine Sekunde lang an den Stechflügel, sondern konzentrierte sich auf die Idee, daß das Tier vollkommen harmlos sei. Er konnte es berühren, ohne gestochen zu werden.
Meta unternahm ebenfalls einen Versuch, konnte ihre Angst aber nicht überwinden, als sie sich dem Tier näherte. „Ich versuche es wirklich“, sagte sie, „und ich glaube dir auch, Jason — aber ich kann einfach nicht.“
Skop protestierte heftig, als sich alle Blicke auf ihn richteten, und mußte mit einem Kinnhaken außer Gefecht gesetzt werden, als er sich auf die Grubber stürzen wollte.
29
„Was sollen wir jetzt tun?“ erkundigte sich Meta besorgt und drückte damit aus, was die Pyrraner innerhalb des Schiffes und an den Bildschirmen dachten.
„Was sollen wir tun?“ Sie wandten sich an Jason, von dem sie sich eine Antwort erhofften. In diesem Augenblick war aller Streit vergessen. Dieser Fremde hatte die Grundfesten einer alten Welt erschüttert vielleicht wußte er Rat, wie sich eine neue errichten ließ?
„Langsam“, sagte Jason und hob die Hand. „Ich habe nicht die Absicht, mich mit einem Planeten voller schwergewichtiger Scharfschützen zu befassen. Bisher habe ich mich durchgemogelt, aber eigentlich hätte ich schon längst tot sein müssen.“
„Selbst wenn das alles wahr ist, Jason“, sagte Meta, „bist du immer noch der einzige, der uns helfen kann. Was haben wir von der Zukunft zu erwarten?“
Jason setzte sich in den Pilotensessel, bevor er antwortete. „In den letzten Tagen habe ich viel über dieses Problem nachgedacht. Ich fürchte allerdings, daß die alte Fabel von dem Löwen und dem Lamm, die friedlich Seite an Seite liegen, sich nur schwer verwirklichen läßt. Im Idealfall müßtet ihr jetzt die Mauer niederreißen, so daß alle Menschen aus der Stadt und den Wäldern brüderlich miteinander leben können.
Das wäre tatsächlich eine hübsche Vorstellung — aber trotzdem nur eine Illusion. Wahrscheinlich würde es nicht lange dauern, bis jemand sich daran erinnert, wie verkommen Grubber sind, oder wie dumm die Junkmen sein können. Und dann wären auch schon die ersten Leichen fällig. Nein, so geht es nicht.“
Während die Pyrraner zuhörten, fiel ihnen plötzlich ein, wo sie sich befanden. Die Armbrustschützen hoben ihre Waffen, die Städter traten an die Wand zurück und sahen mürrisch drein.