»Wir könnten ihn doch in einen der alten Hühnerverschläge setzen«, entgegnete Gaius beharrlich. »Die stehen doch sowieso leer. Wir können ihn füttern und an einer Leine fliegen lassen.«
Tubruk schnaubte ein wenig verächtlich. »Weißt du, was ein wilder Vogel tut, wenn man ihn eingesperrt hält? Er hasst Mauern um sich herum, und ganz besonders die engen Wände eines Hühnerverschlags. Damit zerstört ihr seine Seele, und es dauert nicht lange, bis er sich aus lauter Verzweiflung selbst die Federn ausreißt. Er frisst nicht mehr und verletzt sich selbst so lange, bis er stirbt. Euer Zeus hier zieht den Tod der Gefangenschaft vor. Das Beste, was ihr für ihn tun könnt, ist, ihn wieder freizulassen. Ich glaube nicht, dass ihr ihn überhaupt hättet fangen können, wenn er nicht krank wäre, also stirbt er vielleicht ohnehin. Aber lasst ihn doch wenigstens seine letzten Tage in Freiheit genießen, draußen im Wald und in der Luft, dort, wo er hingehört.«
»Aber .« Marcus verstummte und schaute auf den Raben hinunter.
»Kommt schon«, drang Tubruk in sie. »Gehen wir hinaus aufs Feld und sehen zu, wie er davonfliegt.«
Mit schweren Herzen schauten sich die beiden Jungen an und folgten Tubruk zum Tor hinaus. Dort blieben sie stehen und schauten zusammen den Hügel hinunter.
»Lass ihn frei, Junge«, sagte Tubruk. Etwas in seiner Stimme veranlasste sie, ihn verwundert anzuschauen.
Marcus hob die Arme, öffnete die Hände, und Zeus erhob sich in die Luft. Er breitete seine großen schwarzen Schwingen aus und versuchte, an Höhe zu gewinnen. Dann krächzte er von oben empört auf sie herab und stieg noch höher, bis er nur noch als Punkt am Himmel über dem Wald zu sehen war. Schließlich entschwand er im Sinkflug in Richtung Wald ihren Blicken. Tubruk legte jedem der Jungen eine raue Hand auf den Nacken.
»Das war eine edle Tat. Aber es warten noch etliche andere Aufgaben auf euch. Die ganze Zeit konnte ich euch nicht finden, und jetzt hat sich so einiges angesammelt. Also marsch hinein mit euch.«
Er schickte die Jungen durch das Tor zurück in den Hof und ließ noch einen letzten Blick über die Felder und hinüber zum Wald schweifen, bevor er ihnen folgte.
3
In diesem Sommer begann die eigentliche Ausbildung der Jungen. Sie waren von Anfang an gleich behandelt worden, und so war auch Marcus in der Führung eines komplexen, wenn auch vergleichsweise kleinen Landgutes unterrichtet worden. Das offizielle Latein, das ihnen schon von Geburt an eingetrichtert worden war, wurde weitergelehrt, und zusätzlich umfasste ihr Unterricht berühmte Schlachten und Kriegstaktiken. Sie lernten ebenso, Menschen zu führen, wie mit Geld und Schulden umzugehen. Als Suetonius im darauf folgenden Jahr wegging, um Offizier in einer afrikanischen Legion zu werden, hatten Gaius und Marcus bereits mit griechischer Rhetorik und der Kunst des Disputs angefangen. Dinge, die sie brauchen würden, falls sie später als junge Senatoren je einen Bürger nach dem Gesetz anklagen oder verteidigen wollten.
Obwohl die dreihundert Senatsmitglieder nur zweimal im Mondmonat zusammenkamen, blieb Gaius’ Vater immer länger und länger in Rom, während die Republik sich mit ihren Kolonien und dem stetigen Wachstum von Macht und Wohlstand abmühte. Die einzigen Erwachsenen, die Gaius und Marcus monatelang zu Gesicht bekamen, waren Aurelia und die Lehrer, die das Haupthaus bei Morgengrauen betraten und es abends mit in den Taschen klingenden Denarii in Richtung Sonnenuntergang wieder verließen. Auch Tubruk war immer um sie und wachte mit freundlicher Hand aus dem Hintergrund über die Jungen, auch wenn er ihnen keinen Unfug durchgehen ließ. Vor Suetonius’ Abreise war der alte Gladiator die fünf Meilen zum Nachbarhof gelaufen und hatte elf Stunden, von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, auf die Erlaubnis gewartet, den ältesten Sohn des Hauses zu sehen. Er hatte Gaius nicht verraten, was er dabei erfahren hatte, doch war er mit einem Lächeln zurückgekommen und Gaius mit seiner großen Hand durchs Haar gefahren, bevor er zu den Ställen hinunterging, um nach den neuen Stuten zu sehen, die gerade rossig wurden.
Von allen Unterrichtsstunden gefielen Gaius und Marcus die bei Vepax am meisten. Vepax war ein junger Grieche, ein hoch aufgeschossener und schmaler junger Mann in seiner Toga. Er kam immer zu Fuß zum Gut, und bevor er wieder in die Stadt zurückging, zählte er sorgfältig die Münzen, die er verdient hatte. Jede Woche kamen sie zwei Stunden in einem kleinen Raum zusammen, den Gaius’ Vater für den Unterricht bereitgestellt hatte. Es war ein karges Zimmer mit Steinplatten auf dem Fußboden und schmucklosen Wänden. Wenn die anderen Tutoren Verse von Homer oder lateinische Grammatik herunterleierten, zappelten die Jungen oft ungeduldig auf ihren Holzbänken herum oder schweiften in Gedanken ab, bis es der Lehrer merkte und sie mit energischen Hieben seines Rohrstocks wieder in die Gegenwart holte. Die meisten waren sehr streng und ließen so gut wie nichts durchgehen, weil sich ihre Aufmerksamkeit nur auf diese beiden Schüler richtete. Eines Tages hatte Marcus seinen Schreibstift dazu benutzt, ein Schwein mit Gesicht und Bart eines Tutors zu malen. Gerade als er es Gaius zeigen wollte, wurde er erwischt und musste die Hand für den Rohrstock ausstrecken. Die drei scharfen Schläge taten entsetzlich weh.
Vepax dagegen hatte keinen Rohrstock. Das Einzige, was er immer dabeihatte, war ein schwerer Stoffsack voller Tontafeln und Figuren. Einige davon waren rot, andere blau, um die verschiedenen Parteien zu markieren. Zur verabredeten Stunde hatte er immer schon die Bänke an einer Seite des Zimmers zusammengeschoben und seine Figuren aufgestellt, um eine berühmte Schlacht aus der Vergangenheit nachzustellen. Nachdem sie seinen Unterricht ein Jahr genossen hatten, bestand die wichtigste Aufgabe der Jungen darin, die Struktur der Aufstellung wiederzuerkennen und die beteiligten Generäle zu benennen. Sie wussten, dass Vepax sich nicht auf römische Schlachten beschränkte. Manchmal standen die winzigen Pferde und Legionärsfiguren auch für das Land der Parther, das alte Griechenland oder Karthago. Da sie wussten, dass Vepax selbst Grieche war, drängten die Jungen ihn immer wieder, ihnen auch die Schlachten Alexanders zu zeigen. Die Legenden um ihn und das, was er schon in so jungen Jahren erreicht hatte, begeisterten sie. Anfangs hatte Vepax noch gezögert, denn er wollte nicht in den Verdacht geraten, die Geschichte seines eigenen Volkes zu bevorzugen, doch schließlich ließ er sich doch überreden und stellte jede große Schlacht nach, von der noch Aufzeichnungen und Karten existierten. Für die griechischen Kriege brauchte Vepax nie nachzuschlagen, weil er jede Figur aus dem Gedächtnis führen konnte.
Er nannte den Jungen die Namen der Generäle und der Schlüsselfiguren jeder Auseinandersetzung und erklärte ihnen die politischen und geschichtlichen Hintergründe, insofern sie einen direkten Bezug zu diesem Tag hatten. Für Marcus und Gaius erweckte er die kleinen Tonfigürchen zum Leben, und jedes Mal, wenn die zwei Stunden mit ihm um waren, sahen sie sehnsüchtig zu, wie er sie langsam und sorgfältig wieder in seine Taschen packte.
Eines Tages, als sie zum Unterricht erschienen, war fast der ganze kleine Raum mit den Tonfiguren voll gestellt. Eine riesige Schlacht war aufgebaut worden, und Gaius zählte schnell die blauen Figuren, dann die roten und multiplizierte sie im Kopf, so wie er es von seinem Mathematiklehrer gelernt hatte.
»Sag mir, was du siehst«, forderte Vepax Gaius mit ruhiger Stimme auf.
»Zwei Streitkräfte, eine mit mehr als fünfzigtausend Mann, die andere mit fast vierzigtausend.
Die rote ist ... die rote ist die römische Seite, wenn man die schwere Infanterie betrachtet, die vorne in Legionsquadraten aufgestellt ist. Sie wird auf dem rechten und linken Flügel von der Kavallerie unterstützt, aber die blaue Kavallerie, die ihnen gegenübersteht, ist genauso stark. Auf der blauen Seite stehen Schleudern und Speerwerfer, aber ich sehe keine Bogenschützen, also sind die Angriffe mit Wurfgeschossen nur über eine sehr kurze Reichweite wirkungsvoll. Die Armeen scheinen fast ebenbürtig zu sein, also dürfte es eine langwierige und schwierige Schlacht werden.«