Vepax nickte. »Die rote Seite ist tatsächlich die römische. Ausnahmslos hoch disziplinierte, erfahrene Kriegsveteranen. Was wäre, wenn ich euch sage, dass die blaue Seite eine gemischte Gruppe aus Galliern, Spaniern, Numidern und Karthagern ist? Wäre das bezeichnend für den Ausgang der Schlacht?«
Marcus’ Augen leuchteten interessiert auf. »Es würde bedeuten, dass wir hier Hannibals Streitmacht vor uns haben. Aber wo sind seine berühmten Elefanten? Hast du keine Elefanten in deiner Tasche?« Marcus blickte erwartungsvoll zu dem schlaffen Stoffsack hinüber.
»Es ist tatsächlich Hannibal, dem die Römer hier gegenüberstehen. Aber bei dieser Schlacht hier waren die Elefanten schon tot. Später hat er neue aufgetrieben und sie als fürchterliche Angriffswaffe eingesetzt, aber hier musste er ohne sie auskommen. Er hat zwei Legionen weniger, und seine Truppen sind bunt zusammengewürfelt, wohingegen die römische Streitmacht einheitlich ist. Welche anderen Faktoren könnten den Ausgang der Schlacht noch beeinflussen?« »Die landschaftlichen Gegebenheiten«, rief Gaius. »Steht er auf einem Hügel? Dann könnte seine Reiterei .«
Vepax winkte sanft ab.
»Die Schlacht wurde in einer Ebene geschlagen. Es war ein kühler, klarer Tag. Hannibal hätte eigentlich verlieren müssen. Wollt ihr sehen, wie er gewonnen hat?«
Gaius starrte auf die vielen Figuren. Alles sprach gegen die blauen Truppen. Verwirrt blickte er auf.
»Dürfen wir die Figuren umstellen, während du erklärst?«
Vepax lächelte. »Natürlich. Heute brauche ich euch sogar beide, um die Schlachtreihen so zu bewegen, wie sie sich damals bewegt haben. Du führst die römische Seite, Gaius. Marcus und ich, wir übernehmen Hannibals Truppen.«
Lächelnd sahen sich die drei über die Reihen der Tonfiguren hinweg an.
»Die Schlacht von Cannae, vor einhundertsechsundzwanzig Jahren. Jeder Mann, der in dieser Schlacht gekämpft hat, ist inzwischen zu Staub zerfallen, jedes Schwert ist verrostet, aber die Lektionen sind immer noch da, um gelernt zu werden.«
Gaius wurde klar, dass Vepax sämtliche Tonsoldaten und Pferde, die er besaß, mitgebracht haben musste, um diese Schlacht nachzustellen. Obwohl jede einzelne Figur für fünfhundert Männer stand, nahmen sie den Großteil des zur Verfügung stehenden Raumes ein.
»Gaius, du bist Aemilius Paulus und Terentius Varro, die beiden erfahrenen römischen Heerführer. Du marschierst Reihe für Reihe direkt auf den Feind zu und erlaubst keine Umwege oder Nachlässigkeit in der Disziplin. Deine Infanterie ist hervorragend geschult und müsste sich gegen die Reihen ausländischer Schwertkämpfer bestens behaupten können.«
Nachdenklich rückte Gaius die Infanterie Gruppe um Gruppe nach vorne.
»Jetzt unterstütze sie mit deiner Kavallerie, Gaius. Sie darf nicht zurückbleiben, sonst kann deine Flanke angegriffen werden.«
Gaius nickte und setzte die kleinen Tonpferde so, dass sie der schweren Kavallerie unter Hannibals Befehl gegenüberstanden.
»Marcus, unsere Infanterie muss standhalten. Wir werden vorstoßen und direkt auf den Gegner treffen, und unsere Kavallerie beschäftigt die ihre an den Flügeln und hält sie dort auf.«
Wortlos und mit gesenkten Köpfen bewegten alle drei die Figuren, bis die beiden Armeen entsprechend verschoben waren und sie sich direkt gegenüberstanden. Gaius und Marcus stellten sich das Schnauben der Pferde und die durch die Luft gellenden Schlachtrufe vor.
»Und jetzt sterben die Männer«, murmelte Vepax. »Unsere Infanterie gibt jetzt in der Mitte nach, weil sie auf den bestausgebildeten Feind trifft, dem sie jemals gegenübergestanden hat.« Seine Hände flogen schnell nach vorne und setzten eine Figur nach der anderen auf eine neue Position, und er befahl den Jungen, seinen Anweisungen eilig zu folgen.
Auf dem Boden vor ihnen drängten die römischen Legionen Hannibals Mitte zurück, die vor ihnen zurückwich und kurz davor war, die Flucht zu ergreifen.
»Sie können nicht standhalten«, flüsterte Gaius. Die Legionen drängten immer weiter nach vorne, und er sah, wie der große, sichelförmige Bogen sich immer tiefer wölbte. Er hielt inne und überschaute das ganze Feld. Die Kavallerie stand immer noch am gleichen Ort und war in eine blutige Stellungsschlacht mit dem Feind verwickelt. Sein Unterkiefer klappte auf, als er sah, wie Marcus und Vepax weiter die Figuren umstellten, denn plötzlich wurde ihm der Plan klar.
»Ich würde nicht weiter vorrücken«, sagte er und Vepax hob mit fragendem Gesichtsausdruck den Kopf.
»Jetzt schon, Gaius? Dann hast du eine Gefahr erkannt, die weder Paulus noch Varro gesehen haben, bis es zu spät war. Rücke mit deinen Männern weiter vor, wir müssen die Schlacht zu Ende spielen.« Es bereitete ihm offensichtlich Vergnügen, Gaius jedoch irritierte es maßlos, dass er Spielzüge weiterführen sollte, die zur Vernichtung seiner Armee führen mussten.
Die Legionen marschierten durch die Truppen der Karthager hindurch, und der Feind ließ sie ein. Er fiel schnell und ohne Hast zurück und verlor so wenig Männer wie möglich an die vorrückende Linie. Hannibals Truppen bewegten sich vom hinteren Ende des Feldes zu den Seiten und ließen die Falle immer größer werden. Wie Vepax ihnen erklärte, war das gesamte römische Heer nach wenigen Stunden an drei Seiten vom Feind umgeben, der sich auch hinter dem eingedrungenen Keil langsam zusammenschloss, bis es in der von Hannibal erdachten Falle saß. Die römische Kavallerie wurde noch immer von gleichwertigen Kräften zurückgehalten, und die letzte Szene brauchte nur wenig Erklärung, um das grauenhafte Geschehen vollends zu verdeutlichen.
»Die meisten Römer konnten nicht kämpfen, weil sie in der Mitte ihrer eigenen, engen Formationen gefangen waren. Hannibals Männer töteten den ganzen Tag lang und schnürten die Falle immer enger zu, bis keiner mehr am Leben war. Die Vernichtung nahm ein Ausmaß an, das es weder vorher noch hinterher je wieder gegeben hat. Bei den meisten Schlachten bleiben viele am Leben, zumindest diejenigen, die am Ende noch fliehen können. Aber diese Römer hier waren von allen Seiten eingeschlossen und konnten nirgendwohin fliehen.«
Die beiden Jungen waren eine Weile ganz still und prägten die grausigen Einzelheiten ihrem Verstand und ihrer Fantasie ein.
»Für heute ist unsere Zeit um, ihr beiden. Nächste Woche zeige ich euch, was die Römer aus dieser und den anderen Niederlagen, die Hannibal ihnen zugefügt hat, gelernt haben. In Cannae sind sie zwar sehr fantasielos vorgegangen, aber sie haben dann einen neuen Heerführer gefunden, der für seinen Ideenreichtum und seinen Wagemut berühmt war. Vierzehn Jahre später traf er in der Schlacht von Zama auf Hannibal, und diesmal ging die Sache völlig anders aus.« »Wie hieß der Mann?«, fragte Marcus aufgeregt.
»Er hatte mehr als nur einen Namen. Sein richtiger Name lautete Publius Scipio, aber wegen der Schlachten, die er gegen Karthago gewann, wurde er als Scipio Africanus bekannt.«
Als Gaius auf seinen zehnten Geburtstag zuging, war aus dem Kind ein athletischer, geschickter Knabe geworden. Er konnte mit allen Pferden des Gutes umgehen, selbst mit den schwierigen, die eine starke Hand brauchten. Sie schienen sich unter seiner Berührung zu beruhigen und reagierten willig auf ihn. Nur ein einziges Pferd wollte ihn einfach nicht im Sattel lassen. Gaius wurde elf Mal abgeworfen, bis Tubruk das Tier schließlich verkaufte, bevor dieser Machtkampf eines schönen Tages noch einen der beiden umbrachte.
In Abwesenheit von Gaius’ Vater war Tubruk bis zu einem gewissen Umfang für die Geldgeschäfte des Gutes verantwortlich. Er entschied darüber, wo der Reingewinn aus Getreide und Vieh am besten angelegt war. Obwohl dies bereits ein großer und ungewöhnlicher Vertrauensbeweis war, erstreckte sich Tubruks Befugnis nicht darauf, die Kämpfer für die Unterrichtung der Jungen in Kriegskunst einzustellen. Diese Entscheidung musste vom Vater getroffen werden, weil diesem sämtliche Aspekte der Erziehung oblagen. Nach römischem Recht hätte Gaius’ Vater die Jungen sogar erdrosseln oder in die Sklaverei verkaufen dürfen, wenn sie sein Missfallen erregten. Seine Macht über den gesamten Haushalt war absolut, und jeder tat gut daran, sein Wohlwollen nicht aufs Spiel zu setzen.