Julius und Tubruk standen auf und die beiden Jungen taten es ihnen nach. Gaius’ Vater streckte die Hand aus und begrüßte den Ersten, der ihn erreichte. Beim Handschlag neigte der Mann zum Gruß leicht den Kopf.
»Seid gegrüßt, Freunde. Nehmt Platz. Das hier sind mein Sohn und ein anderer Knabe, der sich in meiner Obhut befindet. Ich denke, die beiden würden sich jetzt bestimmt gerne etwas zu essen holen.«
Tubruk gab jedem von ihnen eine Münze. Die Jungen hatten den Wink verstanden. Zögernd entfernten sie sich durch die Reihen und stellten sich an der Schlange einer Essensbude an. Sie sahen, wie die vier Männer die Köpfe zusammensteckten und miteinander redeten. In dem Lärm auf den Rängen gingen ihre Worte natürlich unter.
Bald darauf, als Marcus gerade Orangen kaufte, sah Gaius, wie die beiden Neuankömmlinge seinem Vater dankten und ihm noch einmal die Hand schüttelten. Dann wandte sich jeder der beiden Tubruk zu, der ihnen beim Abschied Münzen in die Hand drückte.
Marcus hatte für jeden eine Orange gekauft und verteilte sie, als sie ihre Plätze wieder eingenommen hatten.
»Wer waren diese Männer, Vater?«, fragte Gaius neugierig.
»Klienten von mir. Es gibt einige in der Stadt, die mir verbunden sind«, erwiderte Julius, der seine Orange säuberlich schälte.
»Aber was tun sie? Ich habe sie noch nie gesehen.«
Julius wandte sich seinem Sohn zu und bemerkte dessen waches Interesse. Er lächelte.
»Es sind nützliche Männer. Sie wählen Kandidaten, die ich unterstütze, oder beschützen mich in gefährlichen Stadtvierteln. Sie überbringen Botschaften für mich, oder ... erledigen tausend andere nützliche Dinge. Im Gegenzug bekommt jeder der Männer sechs Denare pro Tag.«
Marcus pfiff leise durch die Zähne. »Da kommt ja ein Vermögen zusammen.«
Julius richtete den Blick auf Marcus, der beschämt zu Boden schaute und mit den Orangenschalen spielte.
»Das ist gut angelegtes Geld. Es ist gut, in dieser Stadt Männer zu haben, auf die ich jederzeit für plötzliche Aufgaben zählen kann. Reiche Senatsmitglieder haben manchmal sogar Hunderte von Klienten. Sie sind Teil unseres Systems.«
»Kannst du deinen Klienten denn auch vertrauen?«, unterbrach ihn Gaius.
Julius seufzte. »Nicht, wenn es um etwas geht, das mehr wert ist als sechs Denare am Tag.«
Renius betrat die Arena ohne Vorankündigung. Eben schwatzte die Menge noch munter, und der schmutzige Sandring war leer, da öffnete sich plötzlich eine kleine Tür und ein Mann trat heraus. Zuerst bemerkten sie ihn gar nicht, dann jedoch zeigten die Leute aufgeregt hinunter und standen auf.
»Warum jubeln sie denn so laut?«, fragte Marcus, der mit zusammengekniffenen Augen die einsame Gestalt da unten in der brennenden Sonne betrachtete.
»Weil er noch einmal zurückgekommen ist. Wenn du später einmal selbst Kinder hast, kannst du ihnen erzählen, dass du Renius hast kämpfen sehen«, erklärte Tubruk lächelnd.
Alle um sie herum schienen von seinem Anblick begeistert. Ein Sprechchor bildete sich und schwoll zu unglaublicher Lautstärke an: »Ren-i-us ... Ren-i-us.« Der Ruf übertönte jegliches Fußgetrampel oder Kleiderrascheln. Das einzige Geräusch auf der ganzen Welt war sein Name. Er hob sein Schwert zum Gruß. Selbst aus dieser Entfernung war deutlich zu sehen, dass ihm das Alter noch nicht viel hatte anhaben können.
»Für sechzig Jahre sieht er noch gut aus, aber sein Bauch ist nicht mehr flach. Sieh dir diesen breiten Gürtel an«, murmelte Tubruk zu sich selbst. »Du hast dich gehen lassen, du alter Narr.« Während der alte Mann den Jubel der Menge entgegennahm, betraten mehrere Sklaven einer nach dem anderen den Sandplatz. Jeder hielt einen Gladius, das Kurzschwert der Legionäre, in der Hand und trug, der größeren Bewegungsfreiheit wegen, nur ein Tuch um die Lenden. Schilde oder Rüstung waren nicht zu sehen. Das römische Publikum verstummte, als die Männer sich um Renius herum zu einer Raute formierten. Einen Augenblick lang herrschte Totenstille, dann öffnete sich die Tür zum Tiergehege.
Noch bevor der Käfig von schwitzenden Sklaven in die Arena gezerrt wurde, war kurzes, hustendes Gebrüll zu hören gewesen. Die Leute tuschelten aufgeregt, denn nun sah man drei Löwen in dem Käfig auf und ab gehen. Durch die Gitterstäbe gesehen waren sie von obszöner Gestalt: Rachen, Kopf und die riesigen, gewölbten Schultern, der lang gestreckte Leib, der sich zum hinteren Ende verjüngte, das selbst fast nur wie ein Anhängsel wirkte. Mit ihren gewaltigen Kiefern schienen sie wie geschaffen dazu, Leben zu zermalmen. Als der Käfig endlich zum Stehen kam, hieben sie mit den Pranken zornig durch die Luft.
Die Sklaven holten mit Hämmern aus, um die Holzpflöcke herauszuschlagen, die den vorderen Teil des Käfigs hielten. Die Zuschauer leckten sich über die vor Aufregung trockenen Lippen. Schließlich ließen die Sklaven die Hämmer fallen, und das eiserne Gatter fiel mit einem weithin hallenden Geräusch in den Sand. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit und Furcht erregender Geschmeidigkeit kamen die Großkatzen eine nach der anderen aus dem Käfig.
Die größte der Raubkatzen brüllte die Gruppe der ihr gegenüberstehenden Männer herausfordernd an. Doch die Männer rührten sich nicht, und so lief der Löwe vor dem Käfig auf und ab, ohne sie dabei auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Dann hockte er sich auf die Hinterläufe, während seine beiden Gefährten weiter brüllend die Arena umkreisten.
Ohne Vorzeichen, ohne jede Warnung preschte er urplötzlich auf die Männer los, die sichtlich zurückzuckten. Hier kam der Tod auf sie zu und wollte sie holen.
Man hörte, wie Renius seine Befehle bellte. Die Vorderseite der Rautenformation, drei tapfere Männer, machten sich mit gezogenen Schwertern für den Angriff bereit. Doch kurz vor ihnen setzte der Löwe zum Sprung an, rammte zwei der Männer zu Boden und zerfetzte ihnen mit seinen riesigen Pranken den Brustkorb. Keiner der beiden regte sich mehr, denn ihre Oberkörper bestanden nur noch aus einer Masse blutiger Knochensplitter. Der dritte Mann holte aus und schlug auf die dichte Löwenmähne ein, richtete jedoch kaum Schaden an. Blitzschnell, als hätte eine Schlange zugeschlagen, schloss sich das Maul des Löwen um seinen Arm, und er schrie auf. Er hörte auch nicht auf zu schreien, als er davontorkelte, mit einer Hand den Stumpf des anderen Unterarms umklammernd. Dann strich ein Schwert über die Rippen des Löwen und ein anderes durchtrennte eine Kniesehne, sodass seine Hinterläufe plötzlich lahmten. Die Wunden brachten das Tier noch mehr zur Raserei. Im Blutrausch schnappte es nach sich selbst. Renius knurrte ein Kommando, und die Männer machten ihm den Weg frei, damit er das Tier töten konnte.
In dem Augenblick, in dem er den tödlichen Schlag führte, griffen die beiden anderen Löwen an. Einer schnappte nach dem Kopf des verwundeten Mannes, der hatte weglaufen wollen. Ein kurzes Kieferknacken und es war vorbei. Der Löwe ließ sich neben dem Leichnam nieder, ignorierte die anderen Sklaven, biss in den weichen Unterleib des Toten und begann zu fressen. Daraufhin fiel er den Männern schnell zum Opfer, Rachen und Brust von drei Klingen durchbohrt.
Renius stellte sich dem Angriff des letzten Löwen, der ihn von links anfallen wollte. Der Sklave, der ihn schützte, wurde von der Attacke umgerissen und das wild zuschnappende Tier fiel über ihn her. Die Pranken mit den großen, schwarzen, wie Speerspitzen hervorstehenden Klauen holten mit unbändiger Wucht aus, um ihn vollends in Stücke zu reißen. Renius verschaffte sich einen sicheren Stand und stieß sein Schwert in die Brust des Löwen. Mit einem Schwall dunklen, klebrigen Blutes riss eine Wunde auf, doch die Klinge rutschte am Brustbein ab und Renius wurde von einer Schulter des Löwen umgestoßen. Doch er hatte Glück, denn das Maul schnappte dahin, wo er eben noch gestanden hatte. Er rollte sich geschickt ab und kam sofort wieder auf die Beine, das Schwert noch immer in der Hand. Als das wilde Tier sich nach ihm umsah und wieder auf ihn losstürmte, war er bereit, seine Klinge durch die Achselhöhle des Löwen bis tief in sein pochendes Herz zu stoßen. Augenblicklich wich alle Kraft aus dem Löwen, als hätte das Schwert eine Eiterbeule aufgestochen. Kraftlos lag der Löwe im Sand und verblutete. Er war noch bei Bewusstsein und schnappte nach Luft, aber er bot einen bejammernswerten Anblick. Ein leises Stöhnen drang tief aus seiner blutenden Brust, als Renius sich ihm mit gezogenem Dolch näherte. Rötlicher Speichel tropfte in den Sand, während die durchbohrte Lunge verzweifelt nach Luft rang.