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Dieser Mann hatte ein wahrhaft überwältigendes Wesen, denn von dem Augenblick an, in dem er den Raum betreten hatte, hatte er die Unterredung beherrscht. Statt seine Wünsche für die Ausbildung seines Sohnes darzulegen, so wie er es sich vorgenommen hatte, war Julius jetzt in der Defensive und beantwortete stattdessen Renius’ Fragen hinsichtlich seines Anwesens und der Ausbildungsmöglichkeiten. Inzwischen wusste er besser Bescheid über das, was er alles nicht hatte, als über das, was er hatte.

»Sie sind noch sehr jung und .«

»Nur ein wenig älter und es wäre schon zu spät. Ja, man kann einen Mann von zwanzig Jahren auch noch zu einem kompetenten Soldaten machen, ein Kind aber kann man zu einem unzerbrechlichen Stück Metall formen. Manche würden sogar behaupten, du hast bereits zu lange gewartet, weil eine richtige Ausbildung schon mit fünf Jahren beginnen sollte. Aber meiner Meinung nach ist das Alter von zehn Jahren optimal, weil dann Muskeln und Lunge erst richtig entwickelt sind. Beginnt man zu früh, bricht man ihren Geist, beginnt man aber zu spät, hat sich ihr Geist schon in der falschen Richtung gefestigt.«

»Da stimme ich zu. Bis zu einem gewissen Ma-«

»Bist du der richtige Vater des Hurenbalgs?« Renius sprach schroff aber ruhig, gerade so, als erkundigte er sich nach dem Wetter.

»Was? Bei allen Göttern, nein! Ich-«

»Gut. Das hätte das Ganze schwieriger gemacht. Dann nehme ich den Vertrag über ein Jahr an. Du hast mein Wort. Die Jungen sollen draußen im Hof vor dem Stall antreten, damit ich sie mir ansehen kann. Sie haben mich ankommen sehen, also müssten sie inzwischen bereit sein. Ich erstatte dir alle drei Monate in diesem Raum hier Bericht. Wenn du den Termin nicht einhalten kannst, lass es mich bitte wissen. Guten Tag.«

Er machte auf dem Absatz kehrt und ging hinaus. Als er draußen war, stieß Julius mit geblähten Backen einen Stoßseufzer aus, der sowohl seine Verblüffung als auch seine Zufriedenheit ausdrückte.

»Könnte genau das sein, was ich gesucht habe«, sagte er leise und lächelte zum ersten Mal an diesem Morgen.

5

Das Erste, was ihnen mitgeteilt wurde, war, dass sie genug Schlaf bekommen würden. Acht Stunden lang, von kurz vor Mitternacht bis zum Morgengrauen, wurden sie in Ruhe gelassen. Ansonsten wurden sie unablässig unterrichtet und abgehärtet, oder sie stopften sich in kurzen Pausen von nur wenigen Minuten hastig Essen in den Mund.

Marcus war die Begeisterung gleich am ersten Tag ausgetrieben worden, als Renius ihn mit seiner ledrigen Hand am Kinn packte und eingehend musterte.

»Genauso willensschwach wie seine Mutter.«

Mehr sagte er zu diesem Zeitpunkt nicht, aber der erniedrigende Gedanke, dass der alte Soldat, dem er so gerne gefallen wollte, seine Mutter in der Stadt gesehen haben könnte, trieb Marcus die Schamesröte ins Gesicht. Vom ersten Moment an war sein Wunsch, es Renius recht zu machen, für ihn zugleich eine Quelle der Scham. Er wusste, dass er sich bei der Ausbildung hervortun musste, aber nicht auf eine Art, die der alte Bastard gutheißen würde.

Es war leicht, Renius zu hassen. Von Anfang an rief er Gaius bei seinem Namen, Marcus hingegen bezeichnete er als »den Jungen« oder »das Hurenbalg«. Gaius wusste, dass er das absichtlich tat. Es war ein Versuch, ihren Hass als Werkzeug einzusetzen, um sie härter und besser zu machen. Trotzdem ärgerte er sich jedes Mal, wenn sein Freund wieder und wieder gedemütigt wurde.

Durch das Anwesen führte ein Fluss sein kaltes Wasser zum Meer. Einen Monat nach Renius’ Ankunft hatte er sie noch vor der Mittagsstunde hinunter ans Wasser geführt und einfach auf einen dunklen Pfuhl gedeutet.

»Rein da«, sagte er.

Sie hatten einander angeschaut und mit den Achseln gezuckt.

Schon vom ersten Moment an machte die Kälte sie beinahe gefühllos.

»Ihr bleibt da drin, bis ich wiederkomme, um euch zu holen«, lautete der Befehl, den Renius ihnen über die Schulter zurief. Er ging zum Haus zurück, wo er ein leichtes Mittagessen verzehrte, ein Bad nahm und schließlich den ganzen heißen Nachmittag verschlief.

Marcus spürte die Kälte viel mehr als sein Freund. Schon nach ein paar Stunden war sein Gesicht blau, und er konnte vor Schlottern kaum noch sprechen. Während der Nachmittag immer länger wurde, spürte er seine Beine immer weniger, und die Muskeln in Gesicht und Nacken schmerzten vom ständigen Zittern. Mühsam unterhielten sich die beiden über alles Mögliche, Hauptsache es lenkte sie von der Kälte ab. Die Schatten wurden länger und ihr Gespräch erstarb. Gaius ging es bei weitem nicht so schlecht wie seinem Freund. Auch seine Glieder waren schon seit langer Zeit taub, aber das Atmen fiel ihm noch immer leicht, wohingegen Marcus nur in kurzen Stößen Luft holen konnte.

Unbemerkt kühlte der Nachmittag auch außerhalb des von Bäumen überschatteten Flussbeckens mit seinem schnell fließenden Wasser weiter ab. Marcus ruhte sich aus, so gut es eben ging. Er neigte den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite, ein Auge war immer halb unter Wasser und blinzelte träge, ohne etwas zu sehen. Manchmal schweiften seine Gedanken so weit ab, dass selbst seine Nase unter Wasser geriet. Dann prustete er plötzlich und richtete sich wieder auf, nur um bald darauf wieder in sich zusammenzusacken. Seit einer Ewigkeit hatten sie kein Wort mehr gesprochen. Die Sache war zu einer Art Privatkrieg geworden, doch sie kämpften nicht gegeneinander. Sie würden in dem kalten Wasser stehen bleiben, bis man sie rief, bis Renius kam und ihnen befahl, herauszukommen.

Der Tag verflog und sie wussten, sie würden nicht mehr aus eigener Kraft herausklettern können.

Selbst wenn Renius jetzt auftauchte und sie lobte, würde er sie eigenhändig herausziehen müssen. Falls die Götter überhaupt ein Auge auf sie hatten, würde er dafür wenigstens nass und schmutzig werden.

Marcus nickte immer wieder ein, schreckte dann plötzlich hoch und merkte, dass er irgendwie aus der Kälte und der Dunkelheit weggetrieben war. Dann fragte er sich, ob er im Fluss sterben würde.

In einem dieser halbwachen Traumzustände spürte er plötzlich Wärme und hörte das einladende Knistern eines ordentlichen Lagerfeuers. Ein alter Mann schob die brennenden Holzscheite mit den Zehen zusammen und lächelte in die aufstiebenden Funken. Er drehte sich um und schien erst jetzt den totenblassen, verirrten Jungen zu bemerken, der ihn beobachtete.

»Komm näher ans Feuer, Junge. Ich tu dir nichts.«

Das Gesicht des alten Mannes wies die Falten und den Schmutz von Jahrzehnten harter Arbeit und Sorgen auf. Es war vernarbt und von Runzeln durchzogen, sodass es fast wie eine zusammengeflickte Börse aussah. Die Hände waren von dicken Adern überzogen, die unter der Haut hin- und herwanderten, wenn er die geschwollenen Gelenke bewegte. Er war wie ein Reisender gekleidet, seine Kleider waren geflickt, und um seinen Hals war ein dunkelrotes Tuch geschlungen.

»Was haben wir denn hier? Einen Schlammfisch! Die sind selten in dieser Gegend, aber es heißt, von einem wird man satt. Du könntest dir ein Bein abschneiden, davon werden wir beide satt. Ich würde die Blutung stillen, mein Junge, doch, doch, ich habe so manche Tricks auf Lager.«

Bei dieser Vorstellung zogen sich riesige Augenbrauen interessiert nach oben. Die Augen glitzerten und der Mund öffnete sich und entblößte weiches Zahnfleisch, feucht und faltig. Der Mann klopfte seine Taschen ab, und auf den dunkelgelben Wänden, die nur von dem Feuer beleuchtet wurden, ahmten die Schatten seine Bewegungen zappelnd nach.