»Wer bist du?«, flüsterte dieser.
Der alte Mann zuckte die Achseln. »Die Antwort auf diese Frage muss ich selbst noch herausfinden. Ich bin ein Bettler gewesen, und das Oberhaupt eines Dorfes. Ich betrachtete mich als jemanden, der nach Wahrheiten sucht, einer neuen Wahrheit an jedem Ort, an den ich komme.«
»Kannst du meiner Mutter helfen?« Gaius hielt die Augen geschlossen, doch er konnte den leisen Seufzer hören, den der Mann ausstieß.
»Nein, Gaius. Ihr Leiden liegt in ihrem Geist, vielleicht auch in ihrer Seele. Bei Verletzungen des Körpers kann ich ein wenig helfen, mehr nicht. Das ist viel einfacher. Es tut mir Leid. Schlaf jetzt, mein Junge. Der Schlaf ist der wahre Heiler, nicht ich.«
Die Dunkelheit kam wie auf Befehl.
Als er wieder erwachte, saß Renius auf dem Bett. Sein Gesicht war so undurchdringlich wie immer. Als Gaius die Augen öffnete, sah er, wie sehr sich sein Lehrer äußerlich verändert hatte. Seine linke Schulter war mit einem großen Verband bedeckt und der Arm eng am Körper festgebunden, und unter der sonnengegerbten Haut war er blass.
»Wie geht es dir, mein Junge? Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr es mich freut, dich auf dem Wege der Besserung zu sehen. Dieser alte Wilde muss Wunder vollbringen können.« Wenigstens seine Stimme klang wie immer, kurz angebunden und schroff.
»Ja, das ist gut möglich. Ich bin überrascht, dich noch hier zu sehen, nachdem du mich fast umgebracht hast«, murmelte Gaius. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug, als die Erinnerungen zurückkehrten. Er spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat.
»Ich wollte dich nicht so schlimm erwischen. Es war ein Fehler. Tut mir Leid.« Der alte Mann suchte in seinen Augen nach Vergebung und sah, dass sie dort bereits auf ihn wartete.
»Es braucht dir nicht Leid zu tun. Ich lebe noch und du lebst noch. Sogar du machst Fehler.«
»Als ich dachte, ich hätte dich getötet .« Schmerz malte sich auf dem alten Gesicht.
Gaius setzte sich mühsam auf und merkte zu seiner Überraschung, dass er wieder einigermaßen zu Kräften gekommen war.
»Du hast mich nicht getötet. Ich werde immer mit Stolz sagen können, dass du mich ausgebildet hast. Aber jetzt genug der Worte über diese Angelegenheit. Sie ist erledigt.«
Einen Augenblick lang war sich Gaius der Lächerlichkeit der Situation bewusst, in der ein dreizehnjähriger Junge den alten Gladiator tröstete, aber die Worte gingen ihm leichter über die Lippen, als ihm deutlich wurde, dass er echte Zuneigung zu diesem Mann empfand, vor allem jetzt, da er ihn als Menschen ansehen konnte, nicht nur als vollkommenen Kämpfer, der aus irgendeinem unbekannten Stein gehauen zu sein schien.
»Ist mein Vater noch hier?«, fragte er hoffnungsvoll.
Renius schüttelte den Kopf. »Er musste zurück in die Stadt, aber er ist die ersten Tage kaum von deinem Bett gewichen, bis wir sicher sein konnten, dass du gesund werden würdest. Die Aufstände haben sich ausgeweitet, Sullas Legion wurde zurückgerufen, um die Ordnung wiederherzustellen.«
Gaius nickte und streckte die geballte Faust vor sich hin.
»Ich wäre gerne dabei und würde zusehen, wie die Legion durch die Tore zieht.«
Renius lächelte über die Begeisterung des jungen Mannes.
»Dieses Mal nicht, glaube ich, aber du wirst mehr von der Stadt zu sehen bekommen, wenn du wieder gesund bist. Tubruk wartet draußen. Bist du kräftig genug, um ihn zu empfangen?«
»Ich fühle mich viel besser, fast wieder normal. Wie lange hat es gedauert?«
»Eine Woche. Cabera hat dir Kräuter gegeben, damit du schläfst. Trotzdem bist du unglaublich schnell wieder gesund geworden, und ich habe schon viele Wunden gesehen. Der alte Mann nennt sich selbst einen Seher. Ich glaube, dieser Kerl verfügt über magische Kräfte. Aber jetzt werde ich Tubruk rufen.«
Als sich Renius erhob, streckte Gaius die Hand aus. »Bleibst du hier?«
Renius lächelte, aber er schüttelte dabei den Kopf. »Die Ausbildung ist abgeschlossen. Ich ziehe mich in meine eigene kleine Villa zurück und möchte in Frieden alt werden.«
Gaius zögerte einen Augenblick. »Hast du ... eine Familie?«
»Ich hatte einmal eine, früher mal, aber sie sind längst tot. Ich werde meine Abende mit anderen alten Männern verbringen, Lügengeschichten erzählen und guten Rotwein trinken. Dein Leben werde ich aber weiterhin verfolgen. Cabera sagt, du bist etwas Besonderes, und ich glaube, dieser alte Teufel täuscht sich nicht sehr oft.«
»Danke«, sagte Gaius. Bessere Worte fand er nicht, um auszudrücken, was ihm der alte Gladiator gegeben hatte.
Renius nickte und packte Gaius’ Hand und sein Handgelenk mit festem Griff. Dann war er verschwunden, und das Zimmer war plötzlich sehr leer.
Tubruks Gestalt füllte den Türrahmen. Der Verwalter lächelte. »Du siehst schon viel besser aus. Du hast Farbe auf den Wangen.«
Gaius grinste ihn an und fühlte sich langsam wieder wie er selbst. »Ich bin schon fast wieder bei Kräften. Ich habe Glück gehabt.«
»Nichts da. Das hast du Cabera zu verdanken. Was für ein erstaunlicher Mann. Er muss an die achtzig sein, aber als sich der neue Arzt deiner Mutter über deine Behandlung beschwert hat, ist Cabera mit ihm nach draußen gegangen und hat ihm eine Tracht Prügel verpasst. So habe ich schon lange nicht mehr gelacht. In seinen dünnen Ärmchen steckt eine Menge Kraft, außerdem hat er eine verdammt harte Rechte. Das hättest du sehen sollen!« Bei der Erinnerung lachte er leise in sich hinein, dann wurde sein Gesicht wieder ernst.
»Deine Mutter wollte dich sehen, aber wir dachten, es würde . ihr zu großen Kummer bereiten, ehe es dir wieder besser geht. Ich bringe sie morgen zu dir.«
»Jetzt ginge es auch. Ich bin nicht zu müde.«
»Nein. Du bist immer noch schwach, und Cabera sagt, du sollst nicht mit Besuchern überanstrengt werden.«
Gaius quittierte die Tatsache, dass Tubruk den Rat eines anderen befolgte, mit gespielter Überraschung.
Tubruk lächelte wieder. »Nun, wie gesagt, er ist ein erstaunlicher Mann, und nach dem, was er bei dir vollbracht hat, ist sein Wort Gesetz in allen Belangen, die deine Pflege betreffen. Ich habe Renius nur hereingelassen, weil er heute abreist.«
»Ich bin froh, dass du das getan hast. Es hätte mir nicht gefallen, wenn das unerledigt geblieben wäre.«
»Dachte ich mir.«
»Es wundert mich, dass du ihm nicht den Kopf abgerissen hast«, meinte Gaius fröhlich.
»Ich habe daran gedacht, aber bei einer solchen Ausbildung können Unfälle passieren. Wie dem auch sei, er ist stolz auf euch beide. Ich glaube, der alte Bastard mag dich, wahrscheinlich wegen deiner Dickköpfigkeit. Ich glaube, darin stehst du ihm in nichts nach.«
»Wie geht es Marcus?«, fragte Gaius.
»Er kann es natürlich kaum erwarten, zu dir gelassen zu werden. Du könntest versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass es nicht seine Schuld war. Er sagt, er hätte dich zwingen sollen, ihn zuerst kämpfen zu lassen, aber .«
»Es war meine Entscheidung, und ich bereue sie nicht. Schließlich habe ich es überlebt.«
Tubruk lachte kurz auf. »Jetzt werde mal nicht übermütig. Miterlebt zu haben, wie du eine solche Wunde überstanden hast, lässt einen an die Kraft von Gebeten glauben. Und ohne Cabera hättest du sie nicht überlebt. Du schuldest ihm dein Leben. Dein Vater hat versucht, ihn dazu zu bringen, eine Belohnung anzunehmen, aber außer Kost und Obdach will er nichts. Ich weiß immer noch nicht, warum er hier ist. Es sieht so aus, als ob er wirklich daran glaubt .. dass wir von den Göttern so bewegt werden, wie wir Würfel werfen, und sie wollten eben, dass er die ruhmreiche Stadt Rom sieht, ehe er zu alt dafür ist.« Der kantige Freigelassene sah verwirrt aus, und Gaius hielt es für besser, ihm nichts von der seltsamen Erinnerung an die Wärme von Caberas Händen zu erzählen. Dafür war später zweifellos immer noch Zeit.