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In dem grünen Zwielicht übersahen sie fast den Raben, der auf einem niedrigen Ast saß, nicht weit von den sonnenüberfluteten Feldern. Marcus entdeckte ihn zuerst, erstarrte augenblicklich und hielt Gaius mit einer Hand vor der Brust zurück.

»Sieh mal, wie groß der ist!«, flüsterte er und wickelte sein Vogelnetz auf.

Sie duckten sich, krochen vorwärts, und der Vogel beobachtete sie interessiert. Selbst für einen Raben war er sehr groß, und als sie ihm zu nahe kamen, breitete er seine großen, schwarzen Schwingen aus und hüpfte fast träge mit einem einzigen Flügelschlag auf den nächsten Baum. »Du schleichst dich von hinten an«, flüsterte Marcus aufgeregt und untermalte seine Worte mit einer Kreisbewegung der Hand. Gaius grinste ihn an und verdrückte sich seitlich ins Unterholz.

Er vollzog kriechend einen großen Kreis und versuchte dabei, den Baum im Auge zu behalten und gleichzeitig auf dürre Äste und raschelndes Laub zu achten.

Als Gaius auf der anderen Seite wieder auftauchte, sah er, dass der Rabe erneut den Baum gewechselt hatte. Dieses Mal saß er auf einem langen Baumstamm, der schon vor Jahren halb umgestürzt war. Die sanfte Neigung des Baumes war leicht zu erklettern, und Marcus hatte bereits begonnen, Zentimeter für Zentimeter auf den darauf sitzenden Vogel zuzukriechen. Die ganze Zeit versuchte er, sein Netz für einen Wurf freizuhalten.

Gaius tastete sich vorsichtig näher an das untere Ende des Stammes heran. »Warum fliegt er nicht weg?«, fragte er sich, als er zu dem Raben hochsah, und genau in diesem Moment legte das Tier seinen großen Kopf von einer auf die andere Seite und breitete die Flügel aus. Beide Jungen erstarrten, bis der Vogel sich wieder beruhigt zu haben schien. Dann rutschte Marcus mit links und rechts von dem dicken Baumstamm herabbaumelnden Beinen noch ein Stück weiter.

Als Marcus nur noch wenige Meter entfernt war, glaubte er, der Vogel würde jetzt doch wieder davonfliegen. Der Rabe hüpfte auf dem Stamm und den Ästen herum und zeigte keinerlei Anzeichen von Furcht. Marcus wickelte sein Netz auf. Es war nur ein Geflecht aus rauem Garn, in dem normalerweise in der Gutsküche Zwiebeln aufbewahrt wurden, in Marcus’ Händen jedoch wurde es augenblicklich zum Furcht erregenden Werkzeug eines Vogelfängers.

Vorsichtig holte er aus, hielt den Atem an und warf. Der Rabe krächzte empört und flatterte auf, holte noch ein weiteres Mal mit seinen Schwingen aus und landete schließlich auf einem zarten, jungen Baum direkt vor Gaius, der ohne zu überlegen einfach auf ihn zurannte.

Während Marcus den Stamm wieder hinunterrutschte, versetzte Gaius dem jungen Baum einen solchen Stoß, dass er mit einem plötzlichen Krachen nachgab und der Vogel zwischen Ästen und Blättern am Boden gefangen war. Gaius hielt den Baum zu Boden gedrückt, sodass Marcus hineingreifen konnte und den schweren Vogel zu fassen bekam. Er hielt ihn mit beiden Händen umklammert und hob ihn triumphierend hoch. Als der Vogel sich verzweifelt wehrte, um doch noch zu entkommen, musste der Junge fester zupacken.

»Hilf mir doch! Er ist unheimlich stark«, schrie Marcus, und Gaius legte seine Hände ebenfalls um das zappelnde Bündel. Plötzlich durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Der Schnabel war lang und gebogen wie ein Speer aus schwarzem Holz, und damit hackte der Rabe auf seine Hand ein. Er schnappte nach dem Stück weicher Haut zwischen Daumen und Zeigefinger und bekam es auch zu fassen.

Gaius schrie auf. »Zieh ihn weg. Er hat meine Hand, Marcus.« Der Schmerz war unerträglich, und beide gerieten in Panik. Marcus bemühte sich weiter, den Vogel zu bändigen, während Gaius versuchte, den Schnabel von seiner Hand zu lösen.

»Ich krieg ihn nicht los, Marcus!«

»Dann musst du die Hand eben rausziehen«, erwiderte Marcus aufgebracht. Sein Gesicht war vor Anstrengung ganz rot.

»Das geht nicht. Der Schnabel ist wie ein Messer. Lass ihn los!«

»Ich lasse ihn nicht los. Dieser Rabe gehört uns, und wir haben ihn wie richtige Jäger in der Wildnis gefangen.«

Gaius stöhnte vor Schmerzen.

»Sag lieber, er hat uns gefangen.« Er zappelte vor Schmerz mit den Fingern, und der Vogel ließ überraschend die Hand los und versuchte, nach einem der Finger zu schnappen. Gaius stöhnte erleichtert auf, brachte sich rasch aus der Gefahrenzone, presste die Hand an den Bauch und krümmte sich.

»Jedenfalls ist er ein echter Kämpfer«, meinte Marcus grinsend und wechselte den Griff, damit ihn der suchende Vogelkopf nicht doch noch zu fassen bekam.

»Wir bringen ihn nach Hause und richten ihn ab. Raben sind sehr klug, hab ich gehört. Er kann Kunststücke lernen, und dann nehmen wir ihn mit aufs Marsfeld.«

»Er braucht einen Namen. Irgendwas Kriegerisches«, nuschelte Gaius, der an seiner verletzten Hand lutschte.

»Wie heißt noch mal dieser Gott, der aussieht wie ein Rabe, oder der immer einen bei sich trägt?« »Keine Ahnung. Ein griechischer wahrscheinlich. Zeus?«

»Der hat eine Eule, glaube ich. Irgendeiner hat jedenfalls eine Eule.«

»Ich erinnere mich zwar an keinen mit einem Raben, aber Zeus ist ein guter Name für ihn.«

Sie lächelten einander an. Der Rabe wurde ruhig und sah sich mit scheinbarer Gelassenheit um. »Dann also Zeus.«

Sie liefen quer über die Felder zum Gut zurück. Marcus hielt den Vogel die ganze Zeit über gut fest.

»Wir müssen ein Versteck für ihn finden«, sagte er. »Deine Mutter kann es nicht leiden, wenn wir Tiere fangen. Weißt du noch, als sie die Sache mit dem Fuchs herausgefunden hat?«

Gaius zuckte zusammen und blickte verschämt auf den Boden. »Neben den Stallungen gibt es noch einen leeren Hühnerstall. Dort könnten wir ihn unterbringen. Was fressen Raben eigentlich?«

»Fleisch, glaube ich. Jedenfalls kommen sie immer auf die Schlachtfelder. Oder waren das Krähen? Wir holen einfach ein paar Reste aus der Küche, dann sehen wir schon, was er frisst.

Das wird kein Problem.«

»Wenn wir ihn abrichten, müssen wir ihm eine Leine ans Bein binden, sonst fliegt er weg«, murmelte Gaius nachdenklich.

Tubruk sprach gerade mit den drei Zimmermännern, die einen Teil des Hausdaches reparieren sollten. Als die Jungen in den Hof einbogen, erspähte er sie sofort und winkte sie zu sich. Sie wechselten einen fragenden Blick. Noch war Zeit zum Wegrennen. Aber Tubruk, der sich wieder zu den Arbeitern umgedreht hatte, würde sie trotz seiner scheinbaren Unaufmerksamkeit nur ein paar Schritte weit kommen lassen.

»Jedenfalls gebe ich Zeus nicht wieder her«, flüsterte Marcus entschlossen.

Gaius konnte nur nicken, weil sie sich bereits in Hörweite der Männer befanden.

»Ich komme in ein paar Minuten nach«, wies Tubruk die Männer an, die sich auf den Weg zur Arbeit machten. »Nehmt schon mal die Ziegel von diesem Abschnitt herunter, bis ich da bin.«

Er drehte sich zu den Jungen um. »Was ist das? Ein Rabe. Der muss krank sein, wenn er sich von euch hat erwischen lassen.«

»Wir haben ihm im Wald eine Falle gestellt. Wir sind ihm gefolgt, haben ihn vom Baum heruntergeholt und gefangen«, antwortete Marcus trotzig.

Tubruk lächelte, als habe er verstanden, und streckte die Hand aus, um über den langen Vogelschnabel zu streichen. Der Kampfgeist des Raben schien verflogen. Der Vogel hechelte fast wie ein Hund. In dem scharfen Schnabel konnte man die schmale Zunge sehen.

»Armes Tier«, murmelte Tubruk. »Sieht aus, als hätte er große Angst. Was wollt ihr mit ihm anfangen?«

»Sein Name ist Zeus. Wir richten ihn als Haustier ab, wie einen Falken.«

Tubruk schüttelte langsam den Kopf. »Man kann ein wildes Tier nicht mehr abrichten. Ein Falke wird von einem Fachmann schon vom Küken an aufgezogen, und selbst der bleibt wild. Sogar der beste Falkner verliert hin und wieder einen, weil er zu weit wegfliegt. Zeus ist schon ausgewachsen. Wenn ihr ihn behaltet, geht er ein.«