Ross nickte entschieden.
»Richtig. Das ist ungefähr das einzige, was wir mit Sicherheit sagen können. Ich kann beschwören, daß seine Bauweise der Technik der Schiffsbauer von Morbihan entspricht.«
»Was folglich vermuten läßt, daß es von dort ausgelaufen ist?«
»Wieder richtig«, stimmte Ross zu. »Schiffe wie dieses transportieren häufig Waren an unsere Küste.«
»Sie bringen meistens Wein und tauschen ihn bei uns gegen andere Güter?«
»So ist es.«
»Die Tatsache, daß keine Ladung an Bord war, könnte nahelegen, daß dieses Schiff seine Ladung bereits in einem irischen Hafen gelöscht hatte?«
Ross rieb sich das Kinn.
»Vielleicht.«
»Euer >vielleicht< in Ehren. Nichtsdestotrotz, falls die Ladung umgeladen wurde - und wir gehen davon aus, daß das auf See geschah -, dann muß das bei Weinfässern ein schwieriges Unterfangen gewesen sein. Wäre es nicht eine plausiblere Annahme, daß die Fässer bereits in einem irischen Hafen abgeliefert wurden und das Schiff sich auf dem Rückweg nach Gallien befand, entweder ohne Ladung oder mit Waren, die auf See leichter umzuladen wären?«
»In Eurer Vermutung liegt eine gewisse Logik«, gab Ross zu.
»Dann machen wir, glaube ich, Fortschritte«, erklärte Fidelma triumphierend. »Nun laßt uns überlegen, was wir sonst noch wissen. Es gibt Blut auf diesem Schiff, Blut unter Deck und frischeres Blut auf einem Leinenfetzen, der sich in der Takelage verfangen hatte, und auf dem Geländer unterhalb der Takelage. Das dort verschmierte Blut ist zwar getrocknet, aber noch nicht alt, und wurde wahrscheinlich in den letzten zwölf bis vierundzwanzig Stunden vergossen. Das Blut könnte von einem Mitglied der Besatzung stammen oder . «, sie hielt inne und versuchte, nicht an Eadulf zu denken, »oder von einem Passagier.«
»Warum nicht von einem der Plünderer?« wollte Ross wissen. »Von einem von denen, die die Ladung oder die Besatzung mitnahmen?«
Fidelma dachte über diesen Einwand nach und räumte auch diese Möglichkeit ein.
»Schon denkbar. Aber wer kann mit Sicherheit behaupten, daß es überhaupt Plünderer gab? Vielleicht hat die Besatzung selbst die Ladung mitgenommen und das Schiff verlassen?«
Sie hob die Hand, als Ross etwas entgegnen wollte. »Schon gut. Das Wichtigste ist, daß das Blut allem Anschein nach in der Zeit vergossen wurde, als die Besatzung verschwand: als das, was ihr zustieß - was immer es war -, gerade geschah.«
Ross wartete, während sie die Ereignisse noch einmal Revue passieren ließ.
»Die Vertäuung des Schiffes wurde vorn und achtern durchtrennt, wahrscheinlich mit einer Axt. Das bedeutet, daß es irgendwo festgemacht haben muß und nicht einfach in einem Hafen vor Anker lag, denn der Anker ist noch an seinem Platz, nur die Verankerungstaue sind abgeschnitten. Warum? Warum die Taue nicht einfach lösen? Hatte jemand an Bord es so eilig, von irgendwo wegzukommen? Oder wurde das Schiff an einem anderen Schiff vertäut und dann losgemacht?«
Ross blickte Fidelma voll Bewunderung an, während sie die verschiedenen Möglichkeiten hervorsprudelte.
»Wie lange war es schon in Sichtweite, als wir an Bord gingen?« fragte sie plötzlich.
»Ich bemerkte es etwa eine halbe Stunde, bevor Odar mich darauf aufmerksam machte. Wir brauchten eine weitere halbe Stunde, um es einzuholen.«
»Das bedeutet, daß sich das Schiff möglicherweise in Küstennähe befand, als sich die geheimnisvollen Ereignisse zutrugen. Stimmt Ihr mir zu?«
»Warum das?«
»Das Schiff muß innerhalb der letzten zwölf bis vierundzwanzig Stunden, bevor wir es entdeckten, überfallen worden sein.« Plötzlich richtete sie sich auf. »Ihr kennt diese Küste gut, nicht wahr, Ross?«
»Ich kenne sie«, räumte er ohne prahlerischen Unterton ein. »Ich segle seit vierzig Jahren in diesen Gewässern.«
»Könntet Ihr anhand von Wind und Strömungen berechnen, von wo aus das Schiff zu der Stelle gesegelt ist, an der Ihr es zuerst gesichtet habt?«
Ross blickte in Fidelmas aufgeregtes Gesicht. Er wollte sie nicht enttäuschen.
»Das ist schwierig, selbst wenn man die Strömungen kennt. Und der Wind hier ist wechselhaft und unbeständig.«
Fidelma zog enttäuscht die Mundwinkel nach unten.
Als er ihre Unzufriedenheit sah, fügte er hastig hinzu: »Aber vielleicht gelingt mir eine gute Schätzung. Ich halte es für vertretbar zu behaupten, daß es zwei mögliche Stellen gibt. An der Einfahrt zu dieser Bucht, oder weiter unten an der Südspitze der Halbinsel. Die Strömungen dort würden das Schiff mit Sicherheit zu der Stelle treiben, wo wir es zuerst entdeckten.«
»Damit haben wir ein riesiges Gebiet.« Fidelma war noch nicht zufrieden.
»Dieser Freund, dem die Büchertasche gehört . « Ross wechselte das Thema und fragte zögernd: »Dieser Freund ... war er ein guter Freund?«
»Ja.«
Ihm entging die Anspannung in ihrer Stimme nicht, als sie die einsilbige Antwort hervorstieß. Er wartete einen Augenblick und sagte dann leise: »Ich habe eine Tochter in Eurem Alter, Schwester. Sie lebt an Land und ist verheiratet. Ihre Mutter ist mit einem anderen Mann zusammen. Ich kann nicht von mir behaupten, die Frauen zu verstehen. Aber eines weiß ich: der Mann meiner Tochter ist auf See verschollen. An dem Morgen, als die Nachricht Ros Ailithir erreichte, sah ich in ihren Augen denselben Ausdruck von Schmerz und Qual, den ich jetzt in Eurem Blick erkenne.«
Abwehrend, mit einem ärgerlichen Schnauben, riß Fidelma sich zusammen.
»Bruder Eadulf ist lediglich ein Freund von mir, weiter nichts. Falls er in Schwierigkeiten ist, werde ich alles daransetzen, ihm zu helfen.«
Ross nickte verständnisvoll.
»Schon recht«, sagte er ruhig. Sie wußte, daß er sich von ihrem Protest keineswegs täuschen ließ.
»Und im Augenblick«, fuhr sie fort, »habe ich anderes zu tun. Zunächst bin ich Äbtissin Draigen verpflichtet. Ich bleibe möglicherweise mehrere Tage in der Abtei, bevor ich Zeit zum Suchen finde. Und nach was soll ich eigentlich suchen?«
»Selbstverständlich kommt zuerst Eure Pflicht«, bestätigte Ross. »Dennoch, wenn es Euch weiterhilft, Schwester, könnte ich, während Ihr Euch in der Abtei aufhaltet, mit meiner barc zu den Stellen segeln, die ich genannt habe, um zu sehen, ob sich dort irgendwelche Hinweise zur Lösung dieses Rätsels finden. Ich werde Odar und einen zweiten Mann zurücklassen, um das gallische Schiff zu bewachen. Ihr könnt Euch an sie wenden, wann immer Ihr sie benötigt.«
Fidelma errötete. Dann beugte sie sich plötzlich vor und drückte dem alten Seemann einen Kuß auf die Wange.
»Seid gesegnet, Ross.« Ihre Stimme geriet ins Stok-ken, ohne daß sie das überspielen konnte.
Ross lächelte verlegen.
»Nicht der Rede wert. Wir segeln mit der Flut frühmorgens los und kehren innerhalb von ein bis zwei Tagen zurück, nicht später. Falls wir etwas entdecken .«
»Kommt und benachrichtigt mich als erste.«
»Wie Ihr wünscht«, willigte der Seemann ein.
Von jenseits des dunkler werdenden Wassers der Meerenge hörten sie das Läuten einer Glocke.
»Zeit für mich, zur Abtei zu fahren.« Fidelma trat vor an die Reling. Sie hielt inne und warf einen raschen Blick über die Schulter. »Möge Gott über Eure Reise wachen, Ross.« Ihr Gesichtsausdruck war ernst. »Ich fürchte, hier sind böse Menschen am Werk. Ich möchte Euch nicht verlieren.«
Kapitel 4
»Und nun, Schwester, möchtet Ihr vermutlich den Leichnam inspizieren?«
Schwester Fidelma zuckte bei Äbtissin Draigens Vorschlag überrascht zusammen. Sie traten gerade aus dem Refektorium der Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen, wo die Nonnen, mit wenigen Ausnahmen, gemeinsam ihre Abendmahlzeit eingenommen hatten.
Die Nacht war bereits über die kleine Abtei hereingebrochen, und die Gebäude lagen im Dunkeln, auch wenn an zentralen Stellen auf dem Gelände Lampen angezündet worden waren, um den Schwestern die Orientierung zu erleichtern. Es versprach wieder eine kalte Nacht zu werden, und der Böden war schon mit weißem Reif überzogen wie mit einer Schneedecke. Holzfeuer qualmten zwischen den Gebäuden, die, soweit Fidelma bisher hatte erkennen können, um einen mit Granit gepflasterten Innenhof herum angeordnet waren. In der Mitte des Hofes stand ein hohes Kreuz, und genau gegenüber einem großen, hölzernen Gebäude - duirthech oder Eichenhaus genannt -, das die Kapelle der Abtei beherbergte, lag der Kreuzgang. Überhaupt war die Mehrzahl der Häuser aus Holz gebaut, hauptsächlich aus Eichenholz, denn in der Umgebung wuchsen riesige Eichenwälder. Die wenigen Gebäude aus Stein dienten, so vermutete Fidelma zumindest, als Vorratsräume. An einem Ende der duirthech erhob sich ein gedrungener Turm mit steinernem Fundament und hölzernem Aufbau, der alle anderen Häuser überragte.