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»Eine junge Frau. Kaum über das Alter der Reife hinaus. Ich schätze, sie war höchstens achtzehn. Vielleicht jünger.«

Ihr Blick fiel auf eine Verfärbung der Haut am rechten Knöchel. Stirnrunzelnd untersuchte sie die Stelle genauer.

»War sie hier an das Brunnenseil gebunden?« fragte sie.

Äbtissin Draigen schüttelte den Kopf.

»Die Schwestern, die die Leiche gefunden haben, sagten, sie habe am linken Knöchel gehangen und sei dort festgebunden gewesen.«

Fidelma wandte ihre Aufmerksamkeit dem linken Knöchel zu und entdeckte dort leichte Schrammen und Dellen. In der Tat, die Kratzer sahen mehr nach Seilwunden aus, und es gab keine Blutergüsse, was bewies, daß das Seil unzweifelhaft erst nach dem Tod dort befestigt worden war. Nun untersuchte sie den rechten Knöchel nochmals eingehend. Nein, diese Abschürfungen waren noch zu Lebzeiten entstanden, aber nicht durch ein Seil oder eine Schnur. Um das Bein zog sich ein gleichmäßiger, etwa fünf Zentimeter breiter, verfärbter Streifen, dessen Haut eindeutig geschädigt wurde, solange das Mädchen noch lebte.

Sie wandte sich nun den Füßen zu. Die Fußsohlen waren dick mit Hornhaut bedeckt und wiesen zahllose Schnitte und Wunden auf. Offensichtlich hatte die Tote zu Lebzeiten nicht gerade ein müßiges Dasein geführt und wahrscheinlich nicht sehr oft Schuhe getragen. Die Zehennägel wirkten ungepflegt, einige waren eingerissen oder abgebrochen. Merkwürdigerweise hatte sich darunter Schmutz abgelagert. Man hatte die Tote zwar gewaschen, doch dieser Schmutz - sonderbar rötlich, fast wie dunkelroter Lehm - schien sich an den Zehen in den Poren festgesetzt zu haben.

»Ich nehme an, daß der Leichnam gewaschen wurde, nachdem man ihn aus dem Brunnen zog?« fragte Fidelma und blickte auf.

»Selbstverständlich.« Die Äbtissin schien durch die Frage verärgert. Nach altem Brauch pflegte man Tote vor der Beerdigung zu waschen.

Fidelma machte keine weitere Bemerkung, sondern wandte ihre Aufmerksamkeit den Beinen und dem Rumpf zu. Dort konnte sie nichts erkennen, außer daß das Mädchen zu Lebzeiten über einen wohlproportionierten Körper und schlanke Gliedmaßen verfügt hatte. Als nächstes widmete sie sich den Händen. Überrascht stellte sie fest, daß ihr Zustand dem der Füße in keiner Weise entsprach. Sie waren weich, ohne Schwielen, mit sauberen, gepflegten Fingernägeln. An der rechten Hand entdeckte sie eine merkwürdige blaue Färbung, an der Außenseite des kleinen Fingers und entlang der Handkante sowie an Daumen und Zeigefinger. Sie untersuchte die andere Hand, fand dort jedoch keinerlei Farbspuren. Die Hände waren nicht die eines Menschen, der körperliche Arbeit gewöhnt war. Dies stand allerdings in völligem Gegensatz zu den Füßen des Mädchens.

»Mir wurde berichtet, daß die Tote mehrere Gegenstände umklammert hielt. Wo sind sie?« fragte Fidelma schließlich.

Die Äbtissin zögerte verlegen.

»Als die Schwestern den Leichnam wuschen und vorbereiteten, wurden die Gegenstände entfernt. Ich verwahre sie in meinen Gemächern.«

Fidelma schluckte die mißbilligende Entgegnung, die ihr auf der Zunge lag, herunter. Was sollte denn die ganze Untersuchung, wenn möglicherweise entscheidende Hinweise entfernt worden waren? Sie besann sich jedoch eines Besseren und sagte: »Dann seid wenigstens so gut und erklärt mir genau, wo die Tote die Gegenstände hatte.«

Äbtissin Draigen schnaubte gefährlich. Sie war offensichtlich nicht gewohnt, Anweisungen zu befolgen, schon gar nicht die einer jungen Nonne.

»Schwester Siomha und Schwester Bronach, die den Leichnam entdeckten, werden Euch Näheres darüber sagen können.«

»Ich spreche später mit ihnen«, erwiderte Fidelma geduldig. »Jetzt würde ich gerne wissen, wo die Gegenstände gefunden wurden.«

Die Äbtissin preßte die Lippen zusammen, atmete tief durch und antwortete steif: »Mit der rechten Hand umklammerte die Tote ein schäbiges Kruzifix aus Kupfer an einem Lederriemen, der um das Handgelenk gewickelt war.«

»Schien es ihr in die Hand hineingelegt worden zu sein?«

»Nein; die Finger waren fest darum geschlossen. Die Schwestern mußten erst zwei Finger brechen, um es herauszuziehen.«

Fidelma zwang sich, die Hand genau zu untersu-chen, um sich von der Richtigkeit dieser Angaben zu überzeugen.

»Abgesehen davon, daß die Finger gebrochen wurden - hat man, als die Tote gewaschen wurde, den Händen besondere Aufmerksamkeit gewidmet? Wurden sie besonders sorgfältig manikürt?«

»Ich weiß es nicht. Die Tote wurde gesäubert und gewaschen, wie es Sitte ist.«

»Habt Ihr eine Vermutung, woher die blaue Färbung stammt?«

»Nicht die geringste.«

»Und was war der andere Gegenstand, der bei ihr gefunden wurde?«

»Am linken Arm hing ein Holzstab mit einer Inschrift in Ogham«, fuhr die Äbtissin fort. »Er war am Unterarm festgebunden und konnte leichter abgenommen werden.«

»Festgebunden? Und Ihr habt ihn noch? Und die Schnur auch?« hakte Fidelma nach.

»Selbstverständlich.«

Fidelma trat zurück und sah die Leiche prüfend an.

Nun kam der unangenehmste Teil ihrer Aufgabe.

»Ich brauche Hilfe, um den Leichnam umzudrehen, Äbtissin Draigen«, sagte sie. »Würdet Ihr so freundlich sein?«

»Ist das denn wirklich notwendig?«

»Ja. Ihr könnt nach einer anderen Schwester schik-ken, wenn Ihr wünscht.«

Die Äbtissin schüttelte den Kopf. Sie atmete noch einmal tief den Lavendelduft ein, bevor sie das Stück Stoff in ihren Ärmel stopfte, trat einen Schritt vor und half Fidelma, die Leiche umzudrehen, zunächst auf die Seite und dann auf den Bauch, so daß der Rücken sichtbar wurde. Die Spuren frischer Striemen waren nicht zu übersehen. Sie liefen kreuz und quer über die weiße Haut, als sei die Unglückliche noch kurz vor ihrem Tod gezüchtigt worden. An manchen Stellen war die Haut sogar aufgeplatzt und hatte, als sie noch lebte, geblutet.

Fidelma atmete tief ein, bereute es jedoch sofort, denn durch den Verwesungsgestank mußte sie würgen und husten. Sie tastete nach ihrem Lavendeltuch.

»Habt Ihr genug gesehen?« fragte die Äbtissin mit eisiger Stimme.

Fidelma nickte zwischen ihren Hustenanfällen.

Gemeinsam drehten sie die Leiche in ihre Ausgangslage zurück.

»Ich nehme an, jetzt wünscht Ihr die Gegenstände zu sehen, die bei der Leiche gefunden wurden?« fragte die Äbtissin, während sie in den großen Vorratsraum vorausging.

»Was ich zuerst wünsche, Mutter Oberin«, erwiderte Fidelma bedächtig, »ist, mich zu waschen.«

Äbtissin Draigen verzog den Mund zu einem fast boshaften Grinsen.

»Selbstverständlich. Folgt mir hier entlang. Unser Gästehaus verfügt über eine Badewanne, und um diese Zeit nehmen die Schwestern normalerweise ihr Bad, so daß das Wasser gerade heiß sein dürfte.«

Man hatte Fidelma das tech-oired, das Gästehaus der Abtei, wo sie während ihres Aufenthaltes in der Gemeinschaft wohnen würde, bereits gezeigt. Es war ein langgestrecktes, niedriges Holzhaus, aufgeteilt in ein halbes Dutzend Kammern, mit einem Badezimmer in der Mitte. In einem bronzenen Behälter wurde das Wasser über einem Holzfeuer erhitzt und anschließend in eine hölzerne dabach oder Badewanne geschüttet.

Die Mitglieder der Gemeinschaft hatten sich offenbar der in Irland weitverbreiteten Mode angeschlossen, allabendlich nach der Abendmahlzeit ein Vollbad zu nehmen, das fothrucud, und sich am Morgen als erstes Gesicht, Hände und Füße zu waschen, eine Reinigungszeremonie, die man indlut nannte. Das tägliche Baden war für die Bewohner der fünf Königreiche mehr als nur eine Sitte, es hatte sich immer mehr zu einem religiösen Ritual entwickelt. Jede irische Herberge verfügte über ein Badehaus.

Die Äbtissin verabschiedete Fidelma am Eingang zum Gästehaus und vereinbarte, sie eine Stunde später in ihren Gemächern zu treffen. Zur Zeit wohnte sonst niemand im tech-oired, so daß Fidelma das ganze Haus für sich hatte. Sie wollte gerade in ihre Kammer eintreten, als sie Geräusche aus dem Badezimmer hörte.