»Also war keine von Euch beiden in der Lage, die Inschrift zu lesen oder ihren Sinn zu entziffern?«
»Ich sagte der Äbtissin, daß ich sie für eine Art heidnisches Symbol hielt. Haben unsere Vorfahren nicht Zweige an Verstorbenen festgebunden, um sie vor den rachsüchtigen Seelen der Toten zu schützen?«
Fidelma musterte die ältere Schwester prüfend, doch wandte ihr diese den Rücken zu und bückte sich, um das Wasser aus den Kleidern zu schlagen.
»Davon habe ich noch nie gehört, Schwester Bronach. Was meinte die Äbtissin zu Eurer Idee?«
»Äbtissin Draigen behält ihre Meinung meistens für sich.«
Irrte Fidelma, oder klang die Antwort tatsächlich ein wenig schnippisch?
Fidelma erhob sich aus der Wanne und griff nach dem Trockentuch, bevor sie hinauskletterte. Energisch rieb sie sich ab und genoß das belebende Prik-keln in ihren Gliedern. Sie fühlte sich erfrischt und entspannt und schlüpfte in die sauberen Kleider. Seit ihrer Rückkehr aus Rom frönte sie dem Luxus, Unterhemden aus weißer sida - Seide - zu tragen, die sie von dort mitgebracht hatte. Ihr entging nicht, daß Schwester Bronach einen Blick auf ihre Unterkleider warf, einen fast neidischen Blick, die erste Gefühlsregung, die Fidelma in ihrem ansonsten so unbewegten Gesicht feststellen konnte. Über die Unterwäsche zog Fidelma ihr braunes inar oder Überkleid, das fast bis zu den Füßen reichte und von einer mit Troddeln geschmückten Schnur um die Taille zusammengehalten wurde. Dann schlüpfte sie in ihre wohlgeformten, spitz zulaufenden Lederschuhe, cuaran, die am Spann mit einer Ziernaht versehen waren und paßten, ohne daß man sie mit Riemen zubinden mußte.
Nun wandte sie sich zum Spiegel und vollendete ihre Toilette, indem sie ihr langes, widerspenstiges rotes Haar in Ordnung brachte.
Schwester Bronach war still geworden und noch mit dem Waschen von Fidelmas Kleidern beschäftigt.
Fidelma belohnte sie mit einem Lächeln.
»Na also, Schwester. Jetzt fühle ich mich wieder wie ein Mensch.«
Schwester Bronach beschränkte sich darauf, ohne weiteren Kommentar zu nicken.
»Gibt es noch irgend etwas, was Ihr mir sagen solltet?« drängte Fidelma. »Zum Beispiel, was geschah, nachdem Ihr und Schwester Siomha den Leichnam aus dem Brunnen gezogen hattet?«
Schwester Bronach hielt den Kopf gesenkt.
»Wir sprachen ein Gebet für die Tote, und dann ging ich die Äbtissin holen, während Schwester Siom-ha bei der Leiche blieb.«
»Und Ihr kehrtet unverzüglich mit der Äbtissin zurück?«
»Sobald ich sie gefunden hatte.«
»Und Äbtissin Draigen nahm die Sache in die Hand?«
»Selbstverständlich.«
Fidelma ergriff ihre Tasche und wandte sich zur Tür. Dort hielt sie einen Augenblick inne und warf einen Blick zurück.
»Ich bin Euch sehr dankbar, Schwester Bronach. Ihr führt Euer Gästehaus sehr gut.«
Schwester Bronach hielt ihren Blick gesenkt.
»Ich tue nur meine Pflicht«, erwiderte sie knapp.
»Damit jedoch die Pflicht einen Sinn bekommt, muß man sie gerne tun«, entgegnete Fidelma. »Mein Mentor, Brehon Morann von Tara, sagte einmaclass="underline" wenn Pflicht nur noch Zwang ist, hört das Vergnügen auf, denn die oberste Pflicht ist die Pflicht, glücklich zu sein. Gute Nacht, Schwester Bronach.«
In ihrem Gemach musterte Äbtissin Draigen Fidelma - das Gesicht noch gerötet, die Haut noch prickelnd von der Wärme des Bades - mit neidvoller Anerkennung. Die Äbtissin saß an ihrem Tisch, vor sich ein in Leder gebundenes Evangelium, in dem sie gerade gelesen hatte.
»Setzt Euch, Schwester«, lud sie Fidelma ein. »Möchtet Ihr mit mir ein Glas Glühwein trinken, um die abendliche Kühle zu vertreiben?«
Fidelma zögerte nur einen Augenblick.
»Ja, vielen Dank, Mutter Oberin«, sagte sie. Auf dem Weg hierher, als eine junge Novizin, die sich als Schwester Lerben vorstellte und als persönliche Dienerin der Äbtissin, sie über den Innenhof begleitete, hatte es geschneit, und Fidelma wußte, daß der Abend noch eisiger werden würde.
Die Äbtissin erhob sich und nahm einen Krug vom Regal. Ein Eisenstab wurde bereits im Feuer erhitzt, und Äbtissin Draigen wickelte ein Stück Leder darum, zog ihn heraus und senkte seine rotglühende Spitze in den Krug. Dann goß sie die warme Flüssigkeit in zwei Keramikbecher und reichte einen davon Fidelma.
»Nun, Schwester«, sagte sie, nachdem beide mehrmals dankbar an der Flüssigkeit genippt hatten, »hier sind die Gegenstände, die Ihr sehen wolltet.«
Sie ergriff ein in Tuch gewickeltes Päckchen, legte es auf den Tisch, setzte sich gegenüber auf ihren Platz und begann in kleinen Schlucken von ihrem Wein zu trinken, während sie Fidelma über den Becherrand beobachtete.
Fidelma stellte ihren Becher ab und wickelte das Tuch auf. Es enthielt ein kleines Kruzifix aus Kupfer an einem Lederbändchen.
Sie starrte lange auf den polierten Gegenstand, bevor sie sich plötzlich an ihren Glühwein erinnerte und eilig daran nippte.
»Nun, Schwester«, fragte die Äbtissin, »was haltet Ihr davon?«
»Von dem Kruzifix nicht viel«, erwiderte Fidelma. »Es ist nichts Besonderes. Armselige Handwerkskunst, ein billiges Stück, wie es sich die Mehrzahl der Schwestern leisten kann. Es könnte von einem hiesigen Handwerker stammen. Falls es dem Mädchen gehörte, dessen Leichnam gefunden wurde, bedeutet das, daß es sich um eine Glaubensschwester handelte.«
»Darin pflichte ich Euch bei. Die meisten Nonnen in unserer Gemeinschaft besitzen ähnlich gearbeitete Kruzifixe aus Kupfer. Das ist hier in der Gegend reichlich vorhanden, und die hiesigen Handwerker stellen jede Menge solcher Kruzifixe her. Doch das Mädchen scheint nicht von hier zu sein. Ein Bauer aus der Umgebung dachte, es könnte sich um seine vermißte Tochter handeln. Er kam, um sich die Leiche anzusehen, doch sie war es nicht. Seine Tochter hatte eine Narbe, die der Leichnam nicht aufwies.«
Fidelma unterbrach ihre Betrachtung des Kruzifixes und hob den Kopf.
»Oh? Wann war der Bauer denn hier?«
»Einen Tag, nachdem wir die Tote gefunden hatten. Sein Name ist Barr.«
»Woher wußte er von der Leiche?«
»In diesem Teil der Welt verbreiten sich Neuigkeiten schnell. Jedenfalls verbrachte Barr reichlich Zeit damit, den Körper zu untersuchen. Er wollte offenbar ganz sichergehen. Der Leichnam könnte aber von einer Nonne aus einem anderen Bezirk stammen.«
In der Tat, dachte Fidelma, der Zustand der Hände der Toten ließ vermuten, daß sie einer religiösen Gemeinschaft angehörte. Wer keine Feldarbeit verrichten mußte, war stolz auf ordentlich gepflegte Hände. Die Fingernägel wurden stets sorgfältig geschnitten und gefeilt. Ungepflegte Nägel zu haben war eine Schande, und zwar für Angehörige beiderlei Geschlechts. Der Ausdruck créchtingnech oder >abgebrochene Nägel< galt als eine der schlimmsten Beleidigungen.
Das paßte jedoch nicht zu den zerschundenen Füßen, den Spuren einer Fußfessel und den Peitschenstriemen auf dem Rücken des Mädchens.
Die Äbtissin hatte ein zweites Stück Tuch ergriffen und es vorsichtig auf den Tisch gelegt.
»Dies ist der Espenstab, der an ihrem linken Unterarm festgebunden war«, kündigte sie an, während sie vorsichtig den Stoff zurückschlug.
Fidelma starrte auf den etwa vierzig Zentimeter langen Stab aus Espenholz. Als erstes fiel ihr auf, daß er in regelmäßigen Abständen eingekerbt war und daß auf einer Seite eine Zeile in Ogham stand, der althergebrachten irischen Schrift. Die Buchstaben waren neueren Datums als die Kerben. Sie betrachtete sie genau, und ihre Lippen formten die Worte.
»Begrabt sie gut. Die Morrigan ist erwacht!«
Sie erbleichte, richtete sich auf und begegnete dem Blick der Äbtissin, die sie spöttisch musterte.