»Ihr wißt, was das ist?« fragte Draigen leise.
Fidelma nickte bedächtig. »Es ist ein fé.«
Ein fé oder Espenstab, gewöhnlich mit einer Inschrift in Ogham, war das Maß, mit dem die Größe von Leichen und Gräbern ermittelt wurde. Der fé war das Werkzeug des Leichenbestatters und wurde mit äußerstem Entsetzen betrachtet, so daß ihn niemand, unter gar keinen Umständen, in die Hand nehmen oder berühren würde, außer demjenigen natürlich, dessen Beruf es war, Leichen und Gräber zu vermessen. Seit den Tagen der alten Götter galt ein fé als Symbol des Todes und des Unheils. Noch heute war die schlimmste Verwünschung, die man gegen jemanden aussprechen konnte: »Möge Euch der fé bald vermessen.«
Es war still, während Fidelma dasaß, den Blick starr auf das Espenholz gerichtet.
Erst als sie einen leisen, aber gereizten Seufzer vernahm, regte sie sich, hob die Augen und sah die Äbtissin an.
Offensichtlich wußte Draigen genau, was der Stock zu bedeuten hatte, denn ihre Miene wirkte besorgt.
»Versteht Ihr jetzt, Fidelma von Kildare, warum ich dem hiesigen bo-aire nicht gestatten konnte, in dieser Angelegenheit seines Amtes als Friedensrichter zu walten? Versteht Ihr jetzt, warum ich Abt Broce eine Nachricht sandte, damit er einen ddlaigh der Brehon-Gerichtsbarkeit schickt, der niemand anderem verantwortlich ist als dem König von Cashel?«
Fidelma erwiderte ihren Blick mit ernsten Augen.
»Ich verstehe, Mutter Oberin«, sagte sie ruhig. »Es gibt viel Böses hier. Viel Böses.«
Fidelma brauchte eine Weile, bis sie einschlafen konnte. Draußen fiel dichter Schnee, doch diesmal war es nicht die eisige Kälte in ihrer Kammer, die ihr das Einschlafen erschwerte. Es war auch nicht das Geheimnis der Toten ohne Kopf, das ihre Gedanken nicht zur Ruhe kommen ließ und sie wachhielt, während sie versuchte, ihre beklemmende Furcht zu beschwichtigen. Zweimal nahm sie das kleine Meßbuch vom Nachttisch, drehte es immer wieder um und um und starrte darauf, als wisse es die Antworten auf all ihre Fragen.
Was war mit Eadulf von Seaxmund’s Ham geschehen?
Vor mehr als zwölf Monaten hatte sie sich in Rom auf dem Kai nahe der Brücke von Probi von Eadulf verabschiedet und ihm dieses kleine Meßbuch geschenkt. Auf der ersten Seite stand ihre Widmung.
Zweimal hatte das Schicksal sie und Eadulf zusammengeführt, um den Tod von Mitgliedern ihrer jeweiligen Kirche zu untersuchen. Sie hatten festgestellt, daß sie trotz entgegengesetzter Charaktereigenschaften eine gegenseitige Anziehung verspürten und daß sich ihre Stärken bei der Suche nach Lösungen für die Probleme, die ihnen gestellt wurden, gut ergänzten. Dann kam für sie die Zeit, getrennte Wege zu gehen. Fidelma mußte in ihre Heimat zurückkehren, und Ea-dulf wurde zum scriptor und Berater von Theodor von Tarsus berufen, dem neu ernannten Erzbischof von Canterbury, Roms wichtigstem Vertreter in den sächsischen Königreichen. Theodor, selbst Grieche und erst vor kurzem zur Römischen Kirche übergetreten, brauchte jemanden, der ihn in die Feinheiten seiner neuen Aufgaben als Geistlicher einweihte. Obwohl Fidelma damals geglaubt hatte, sie werde Eadulf niemals wiedersehen, mußte sie feststellen, daß ihre Gedanken immer häufiger um ihre Erinnerungen an den sächsischen Mönch kreisten. Sie hatte sich einsam gefühlt und sich erst vor kurzem eingestanden, daß sie Eadulfs Gesellschaft vermißte.
Jetzt war sie mit einem Geheimnis konfrontiert, das für sie weitaus schlimmer war als alle anderen Rätsel, mit deren Lösung man sie bisher beauftragt hatte.
Warum hatte sich dieses kleine Meßbuch, ihr Abschiedsgeschenk für Eadulf, auf einem verlassenen gallischen Handelsschiff befunden, in einem ganz anderen Teil der Welt, vor der Südwestküste von Irland? War Eadulf als Passagier auf diesem Schiff gewesen? Wenn Ja, wo war er jetzt? Wenn nicht, in wessen Besitz war das Buch zuletzt? Und warum sollte sich Ea-dulf von ihrem Geschenk getrennt haben?
Endlich, trotz der bohrenden Fragen in ihrem Kopf, wurde Fidelma vom Schlaf überwältigt.
Kapitel 5
Als Schwester Bronach Fidelma weckte, war es noch dunkel, doch am Himmel zeigten sich bereits die Vorboten der herannahenden Morgendämmerung. Eine Schüssel warmes Wasser war für ihre Morgentoilette bereitgestellt, und eine brennende Kerze sollte ihr diese Verrichtung erleichtern. Zu dieser frühen Stunde war es schneidend kalt. Fidelma hatte sich kaum angekleidet, da hörte sie langsames, harmonisches Glok-kenläuten, die traditionelle »Totenglocke«, die nach altem Brauch das Dahinscheiden einer christlichen Seele verkündete. Einen Augenblick später kehrte Schwester Bronach zurück, den Kopf gesenkt, die Augen zu Boden gerichtet.
»Zeit für die Totenmesse, Schwester«, flüsterte sie.
Fidelma nickte und folgte ihr aus dem Gästehaus in die duirthech, wo sich die Gemeinschaft vollständig versammelt zu haben schien. Sie war überrascht, daß der Schnee vom Vorabend auf dem Abteigelände geschmolzen war, die umliegenden Wälder und Hügel jedoch unter einer dünnen Schneedecke lagen. Ein weißes Leuchten tauchte den frühen Morgen in ein unheimliches Licht.
Im Inneren der hölzernen Kapelle war es so kalt, daß man ein Feuer angezündet hatte, das in einer Kohlenpfanne im Hintergrund flackerte. Von dem mit Steinplatten ausgelegten Boden stiegen Feuchtigkeit und Kälte auf. Äbtissin Draigen kniete hinter dem Altar mit seinem großen, ungemein prunkvollen goldenen Kreuz, das fast bis an die Decke der Kapelle reichte. Vor dem Altar, genau vor den Versammelten, stand die fuat, die Totenbahre mit dem Leichnam des unbekannten Mädchens.
Fidelma nahm in der letzten Bank neben Schwester Bronach Platz. Sie war dankbar für die Wärme des ganz in der Nähe brennenden Kohlenfeuers. Anerkennend betrachtete sie die verschwenderische Einrichtung der Kapelle. Passend zur Pracht des Altarkreuzes waren auch die Wände mit zahlreichen Ikonen geschmückt, und ihre Goldverzierungen waren überall zu sehen. Sie nahm an, daß das Leichenbegängnis seit dem Vorabend abgehalten worden war. Jetzt war der Leichnam in ein racholl, ein weißes, linnenes Totenhemd, gehüllt. An jeder Ecke der Bahre flackerte eine Kerze in der leichten Morgenbrise.
Äbtissin Draigen erhob sich und begann nach Art der traditionellen lamb-comairt, der Totenklage, langsam in die Hände zu klatschen. Dann stimmten die Schwestern ein leises Wehklagen an - den caoine, den Klagegesang. Im Dämmerlicht des frühen Morgens klang er bedrückend, und Fidelma bekam Gänsehaut, obwohl sie ihn schon so oft gehört hatte. Das Beweinen der Toten war ein Brauch aus uralten Zeiten, lange bevor das Christentum die Verehrung der alten Gottheiten verdrängt hatte.
Nach zehn Minuten brach der caoine ab.
Äbtissin Draigen trat vor. An dieser Stelle der Zeremonie folgte gewöhnlich das amra oder Klagegedicht.
Da ertönte plötzlich ein seltsames Geräusch unter dem Steinfußboden der Kapelle. Ein leises, sonderbares Kratzen, ein dumpf dröhnendes Poltern, als stießen zwei Holzboote gegeneinander. Die Mitglieder der Gemeinschaft blickten sich furchtsam an.
Äbtissin Draigen hob Ruhe gebietend ihre schlanke Hand.
»Schwestern, Ihr vergeßt Euch«, mahnte sie.
Dann beugte sie den Kopf, um mit der Messe fortzufahren.
»Schwestern, wir haben eine Tote zu beklagen, die wir noch nicht einmal kennen, und können deshalb kein Klagegedicht anläßlich ihres Dahinscheidens sprechen. Eine unbekannte Seele hat sich in Gottes heilige Umarmung verabschiedet. Gott aber kennt sie, und das genügt. Die Hand, die dieses Leben ausgelöscht hat, ist Gott mit Sicherheit ebenfalls bekannt. Wir beklagen das Dahinscheiden dieser Seele, sind jedoch froh über die Gewißheit, daß sie sich nun in Gottes Obhut befindet.«