Auf ein Zeichen der Äbtissin traten sechs Schwestern vor, hoben die Totenbahre auf ihre Schultern und verließen, von Draigen angeführt, die Kapelle, während der Rest der Gemeinschaft ihnen in Zweierreihen folgte.
Fidelma wartete, um sich dem Ende des Zuges anzuschließen. Ihr fiel auf, daß noch eine Nonne, offenbar in der gleichen Absicht, ebenfalls zögerte: Schwester Bronach. Sie blieb an ihrem Platz, um gemeinsam mit einer anderen Außenseiterin dem Trauerzug zu folgen. Zuerst dachte Fidelma, die Frau sei besonders klein gewachsen, doch dann bemerkte sie, daß sie einen Stock umklammerte und sich mit einem sonderbar schaukelnden Gang fortbewegte. Ihre Beine waren mißgestaltet, ihr Oberkörper jedoch wohlgeformt.
Mit Bedauern stellte Fidelma fest, daß sie noch jung war, ein breites, eher nichtssagendes Gesicht hatte und wässrige blaue Augen. Sie schaukelte von einer Seite zur anderen, zog sich mit Hilfe ihres Schwarzdorn-steckens vorwärts und konnte so mit der Prozession gut Schritt halten. Fidelma empfand Mitleid mit dem Unglück der jungen Schwester und fragte sich, welches Mißgeschick ihre Gehbehinderung verursacht haben mochte.
Inzwischen war es hell geworden, hell genug, damit der Trauerzug sich seinen Weg zwischen den Gebäuden der Abtei und hinaus in den dahinterliegenden Wald bahnen konnte. Eine der Schwestern begann mit leiser Sopranstimme in Latein zu rezitieren, während die anderen Schwestern den Chor anstimmten:
Cantemus in omni die
continentes uarie,
conclamantes Deo dignum
hymnum sanctae Mariae
Fidelma übersetzte sich die Worte flüsternd, während sie weiters chritten: »Laßt uns singen jeden Tag, laßt uns vor Gott vielstimmig jauchzen, laßt uns lobsingen der heiligen Maria.«
Sie hielten auf einer kleinen Lichtung, wo, nach den zahlreichen Gedenksteinen und Kreuzen zu urteilen, eine Grabstätte für die Gemeinschaft angelegt worden war. Der Boden war hie und da mit Schneeflocken bestäubt. Die Äbtissin hatte die Prozession zu einer ent-legenen Ecke des Friedhofs dirigiert. Hier hoben die Schwestern, die die Bahre äußerst geschickt getragen hatten - so, als seien sie sehr geübt darin -, den Leichnam herunter und senkten ihn in das Grab hinab, das offensichtlich schon am Vortag vorbereitet worden war.
Fidelma wußte, was als nächstes kam. Es war ein uralter Brauch. Die hölzerne Bahre, auf der die Tote gelegen hatte, wurde von zwei Schwestern mit Hämmern kurz und klein geschlagen. Entsprechend einem alten Aberglauben, den das Christentum bisher noch nicht hatte ausmerzen können, mußte die Bahre vollständig zerstört werden, sonst könnten die Geister sie benutzen, um den Leichnam bei ihren nächtlichen Streifzügen fortzutragen. War die Bahre vernichtet, ließen sie die Toten in Ruhe.
Eine ungewöhnlich junge Schwester von anmutiger Erscheinung trat näher. Sie trug ein riesiges Bündel grüner, buschiger Birkenzweige. Fidelma erkannte in ihr Schwester Lerben, die Novizin, die sie am vergangenen Abend zum Gemach der Äbtissin geführt hatte. Neben dem Grab stellten sich die Schwestern in einer Reihe vor ihr auf, und jede, die an ihr vorbeiging, nahm einen kleinen Zweig entgegen, blieb an der offenen Grube stehen und warf ihn hinein. Fidelma und die gehbehinderte Nonne, der Schwester Bronach behilflich war, standen als letzte in der Reihe an. Mit freundlichem Lächeln ließ Fidelma den beiden anderen den Vortritt, bevor sie einen der restlichen Zweige von Schwester Lerben entgegennahm, ihn in das Grab legte und an ihren Platz zurückkehrte. Der Birkenzweig wurde ses safais genannt und diente nicht nur dazu, die Toten zu bedecken, bevor die Erde ins Grab geschaufelt wurde, sondern nach alter Überlieferung auch zum Schutz des Leichnams vor bösen Mächten.
Äbtissin Draigen trat vor, um den letzten Birkenzweig in die offene Grube zu legen. Während zwei Schwestern das Grab mit Erde zu füllen begannen, stimmte die Äbtissin Psalm ii8 an, der auf Irisch Biait genannt wurde, Dankbares Bekenntnis, nach dem Wort >Danket< aus dem ersten Vers. Er galt als die machtvollste Fürbitte für die Erlösung der leidenden Seele. Äbtissin Draigen brachte das Dankbare Bekenntnis jedoch nicht in seiner vollen Länge zu Gehör, sondern trug nur ausgewählte Verse vor:
In der Angst rief ich den HERRN an; / und der HERR erhörte mich und tröstete mich.
Der HERR ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht; / was können mir Menschen tun?
Der HERR ist mit mir, mir zu helfen; / und ich will meine Lust sehen an meinen Feinden.
Es ist gut, auf den HERRN zu vertrauen / und nicht sich verlassen auf Menschen.
Es ist gut, auf den HERRN zu vertrauen / und nicht sich verlassen auf Fürsten.
Fidelma runzelte die Stirn angesichts der ungestümen Heftigkeit, mit der die Äbtissin die Worte hervorstieß, als hätten sie noch eine andere, tiefere Bedeutung.
Dann war der Pflicht Genüge getan. Der arme, kopflose Leichnam war begraben, die angemessenen Gebete und Segenssprüche waren gesprochen, alles gemäß den Riten des Christentums.
Die Sonne stand inzwischen höher am Himmel, und Fidelma konnte die milde Wärme ihrer frühmorgendlichen Winterstrahlen auf ihrem Antlitz spüren. Die Wälder waren zum Leben erwacht, das melodische Zwitschern der Vögel, das leise Rascheln trockener Blätter und das Knacken von Zweigen, die in der Morgenbrise ihre Schneelast abwarfen, verwandelten die Förmlichkeit der Zeremonie in freudige Heiterkeit.
Fidelma bemerkte, daß die Schwestern sich langsam auf den Rückweg zur Abtei begaben und daß die gehbehinderte Nonne in Begleitung von Schwester Bronach mit ihrem Stecken den Pfad entlang hinter den anderen hereilte. Ein heiseres Husten ließ sie herumfahren, und sie erblickte die Äbtissin und neben ihr die junge Nonne, die während der gesamten Zeremonie zu ihrer Rechten gestanden hatte.
»Guten Morgen, Schwester«, grüßte Draigen und trat näher.
Fidelma erwiderte den Gruß.
»Was war das für ein merkwürdiges Geräusch in der Kapelle?« fragte sie ohne Umschweife. »Die Schwestern wirkten ziemlich beunruhigt.«
Äbtissin Draigen verzog verächtlich das Gesicht.
»Sie müßten es eigentlich besser wissen. Ich habe Euch unser subterraneus gezeigt.«
»Ja, aber Geräusche von dort wären doch in der Ka-pelle sicherlich nicht zu hören? Die Höhle erstreckt sich doch nicht bis unterhalb der duirtbech. «
»Das stimmt. Es soll jedoch, wie ich Euch erzählt habe, unter der Abtei noch weitere Höhlen geben. Abgesehen von unserer Vorratshöhle haben wir ihre Eingänge bis heute nicht gefunden. Zweifellos liegt unter der Kapelle ein Hohlraum, der wahrscheinlich von Zeit zu Zeit überflutet wird. Dabei entsteht das Geräusch, das wir gehört haben.«
Fidelma gab zu, daß das durchaus möglich war.
»Ihr habt es also schon früher gehört?«
Äbtissin Draigen wirkte plötzlich ungeduldig.
»Mehrere Male während der Wintermonate. Aber das ist doch ganz unwichtig.« Es lag auf der Hand, daß sie von dem Thema genug hatte. Sie wandte sich zu ihrer Begleiterin um. »Das ist Schwester Siomha, meine Verwalterin, die zusammen mit Schwester Bronach den Leichnam entdeckt hat.«
Fidelma betrachtete die ebenmäßigen Gesichtszüge Schwester Siomhas mit einiger Überraschung. Sie hatte das Antlitz eines jungen, engelhaften Mädchens und konnte sicher nicht über die Erfahrung verfügen, die Fidelma bei einer rechtaire, der Verwalterin einer Gemeinschaft, voraussetzte. Mit einem verspäteten Lächeln versuchte Fidelma, ihre Überraschung zu überspielen, spürte jedoch im Gegenzug keinerlei Wärme, als die junge Verwalterin das Wort an sie richtete: »Ich habe meine Pflichten zu erledigen, Schwester. Womöglich könntet Ihr mir Eure Fragen deshalb gleich hier stellen.« Das klang beinahe unwirsch und wurde in einem Tonfall gesagt, den Fidelma von dem liebreizend aussehenden Mädchen nicht erwartet hatte, so daß sie zusammenzuckte und im ersten Moment sprachlos war.