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Der Gong hatte gerade die Mittagsstunde angekündigt, und es war nun Schwester Bronachs Pflicht und Schuldigkeit, Wasser aus dem Brunnen zu holen und in Äbtissin Draigens Gemächer zu bringen. Nach den Mittagsgebeten und der Mahlzeit nahm die Äbtissin gern ein heißes Bad. Deshalb pflegte sich Bronach, anstatt gemeinsam mit den anderen Schwestern dem Gottesdienst beizuwohnen, zurückzuziehen und um das Wasser zu kümmern.

Die Hände unter dem Gewand gefaltet und begleitet vom Klappern ihrer Ledersandalen auf den Granitsteinen eilte Schwester Bronach hinaus auf den großen Innenhof, um den herum die Wohngebäude der Gemeinschaft standen. Am frühen Morgen hatte es kurz geschneit, doch war der Schnee bereits geschmolzen, und das Pflaster unter dem Schneematsch war glitschig. Sie ging jedoch sicheren Schrittes über den Platz, vorbei an der bronzenen Sonnenuhr, die in seiner Mitte auf einem Sockel aus poliertem Schiefer stand.

Trotz des kalten, winterlichen Wetters war der Himmel von einem durchscheinenden Blau, und die blasse Sonne stand hoch oben inmitten einer Schar vereinzelt dahinschwebender Wölkchen. Am Horizont sammelten sich schwere, tiefhängende Schneewolken, und Bronach spürte die eisige Luft an den Ohren und zog ihre Kapuze schützend enger um den Kopf.

Am Ende des Hofes ragte ein hohes Granitkreuz auf, das dem Kloster geweiht war. Bronach schritt durch eine schmale Pforte dahinter und betrat ein kleines Felsplateau, von dem aus man die geschützte Bucht gut überblicken konnte. Auf diesem natürlichen Felsenthron, nur drei Meter oberhalb des steinigen Ufers, hatte die Heilige Necht in einer Öffnung des zerklüfteten Bodens eine sprudelnde Quelle entdeckt und sie geweiht. Das war auch dringend nötig gewesen, denn zahlreichen Überlieferungen zufolge galt der Brunnen in früheren Zeiten als heiliger Ort der Druiden, die dort Wasser zu schöpfen pflegten.

Schwester Bronach näherte sich der Quelle, die jetzt von einer niedrigen Steinmauer umschlossen war. Darüber hatten die Mitglieder der Gemeinschaft eine Vorrichtung gebaut, mit deren Hilfe man einen Eimer in das dunkle Wasser tief unten hinablassen und durch Drehen einer Kurbel, an der ein Seil befestigt war, wieder heraufziehen konnte. Schwester Bronach konnte sich noch an Zeiten erinnern, da man zwei bis drei Schwestern brauchte, um Wasser aus dem Brunnen zu ziehen, während jetzt, nachdem es die Vorrichtung gab, selbst eine ältere Schwester wie sie diese ohne große Mühe bedienen konnte.

Schwester Bronach hielt einen Augenblick schweigend inne und ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen. Es war eine merkwürdig ruhige Tageszeit, eine Zeitspanne unerklärlicher Stille, in der kein Vogel singt, kein Lebewesen sich regt, in der das Leben stillzustehen scheint - eine Atmosphäre gespannter Erwartung. Ein Warten darauf, daß etwas passiert. Es war, als hätte die Natur beschlossen, den Atem anzuhalten. Der eisige Wind hatte sich gelegt und rauschte nicht einmal mehr zwischen den hochaufragenden Granitfelsen hinter der Abtei. Die Schafe zogen über ihre rauhen, steinigen Weiden wie wandernde weiße Findlinge, und einige kräftige schwarze Rinder nagten am harten Gras. In den Senken zwischen den Hügeln sah Schwester Bronach die geheimnisvollen blauen Schatten der tiefhängenden Wolken.

Es war nicht das erste Mal, daß Bronach angesichts der Umgebung und dieser geheimnisvollen Stunde erwartungsvoller Ruhe ein Gefühl von Ehrfurcht überkam. Die Welt schien stillzustehen, als harre sie auf das Signal der altertümlichen Hörner, die die uralten Götter Irlands herbeiriefen, auf daß sie sich zeigten und von den umhegenden, schneebedeckten Berggipfeln herabstiegen. Und die großen grauen Granitfindlinge, hie und da an den Berghängen verstreut wie geduckte menschliche Gestalten im kristallklaren Licht, würden sich plötzlich in Kriegshelden aus längst vergangener Zeit verwandeln. Sie würden sich erheben und mit ihren Speeren, Schwertern und Schilden hinter den Göttern hermarschieren, und sie würden eine Erklärung dafür verlangen, warum die Kinder von Éire, der Göttin der Herrschaft und der Fruchtbarkeit, nach der dieses Land vor Urzeiten benannt worden war, sich vom alten Glauben und den Traditionen abgewandt hatten.

Schwester Bronach schluckte heftig und warf rasch einen schuldbewußten Blick in die Runde, als könnten ihre Glaubensgefährtinnen ihre frevlerischen Gedanken hören. Hastig beugte sie die Knie, als wolle sie Abbitte für ihre Sünde leisten - ihre sündhaften Gedanken an die alten, heidnischen Götter. Dennoch konnte sie ihre Gefühle nicht verleugnen. Ihre eigene Mutter - möge sie in Frieden ruhen - hatte sich nicht zum Christentum bekehren lassen, sondern am althergebrachten Glauben festgehalten. Suanach! Sie hatte schon lange nicht mehr an ihre Mutter gedacht, und sie bereute es sogleich. Die Erinnerung traf sie wie eine scharfe, wütende Klinge, auch wenn Suanachs Tod schon zwanzig Jahre zurücklag. Was hatte diese Erinnerung eigentlich ausgelöst? Ach Ja, ihr Nachsinnen über die alten Götter. Dieser kurze Moment, in dem die Anwesenheit der uralten Gottheiten spürbar wurde. Dies war für die Heiden die Stunde der Trauer, der Melancholie aus den tiefsten Tiefen der menschlichen Seele, der Sehnsucht nach längst vergangenen Zeiten, des Klagegesangs für die verlorenen Generationen des Volkes von Éire.

Aus der Ferne ertönte der Gong der Abtei.

Schwester Bronach zuckte zusammen.

Eine volle pongc, die irische Zeiteinheit für eine Viertelstunde, war seit dem Mittagsgebet verstrichen. Nach jeder pongc wurde der Gong einmal geschlagen; jede volle Stunde wurde durch die entsprechende Anzahl von Gongschlägen angekündigt; alle sechs Stunden wurde das Tagesviertel, das cadar, ebenfalls durch die entsprechende Anzahl von Schlägen verkündet. Dann war es auch Zeit für die Wachablösung an der Wasseruhr, denn keine Zeitnehmerin durfte diese beschwerliche Aufgabe länger als ein cadar ausüben.

Bronach fiel ein, wie sehr Äbtissin Draigen Nachlässigkeit verabscheute, und sie gab sich einen Ruck und sah sich nach dem Eimer um. Er stand nicht an seinem üblichen Platz. Erst jetzt bemerkte sie, daß das Seil bereits im Brunnen hing. Ärgerlich runzelte sie die Stirn. Jemand hatte den Eimer an den Haken gehängt und hinuntergelassen, ihn dann jedoch aus unerfindlichen Gründen nicht wieder hochgezogen. Eine derartige Vergeßlichkeit war unverzeihlich.

Seufzend unterdrückte Bronach ihren Unmut und packte die Kurbel. Sie fühlte sich eiskalt an und erinnerte sie an die Kälte des winterlichen Tages. Zu ihrer Überraschung ließ sie sich so schwer drehen, als sei ein Gewicht an ihr befestigt. Bronach unternahm einen erneuten Versuch, doch trotz Aufbietung ihrer ganzen Kraft ließ sich die Kurbel kaum bewegen, und nur langsam, unendlich langsam, konnte sie das Seil aufwickeln.

Nach einer Weile hielt sie inne, blickte sich um und hoffte, eine ihrer Gefährtinnen in der Nähe zu entdecken, damit sie sie um Unterstützung bitten könnte. Noch nie war ihr ein Eimer voll Wasser so schwer erschienen wie dieser. Wurde sie etwa krank? Ließen ihre Kräfte nach? Nein, sie fühlte sich gesund und stark wie eh und je. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die fernen Berge und schauderte, allerdings nicht vor Kälte, sondern vor Angst wegen ihrer abergläubischen Gedanken. Wollte Gott sie für ihre ketzerischen Betrachtungen über die alte Religion bestrafen?