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Als sie sich niederbeugte, um den Stab zu untersuchen, fiel ihr Blick auf einen Gegenstand in der anderen Hand der Toten. Ein schmales, abgewetztes Lederband war um das rechte Handgelenk gewickelt und führte in die geballte Faust. Schwester Bronach wappnete sich erneut für ihr Unterfangen, kniete neben der Leiche nieder und ergriff die kleinen, weißen Hände. Sie konnte die leblosen Finger nicht mehr auseinanderbiegen, denn die Totenstarre hatte sie bereits für immer zur Faust geschlossen. Sie waren jedoch gerade so weit gespreizt, daß Bronach am Ende des Lederbändchens ein kleines, metallenes Kruzifix erkennen konnte.

Sie stöhnte leise auf und warf einen Blick über die Schulter, wo Schwester Siomha sich mit starrer Miene vorbeugte, um zu erspähen, was sie Neues entdeckt hatte.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Schwester Siomha streng, beinahe schroff.

Schwester Bronachs Gesicht war wie versteinert. Sie hatte ihr Mienenspiel inzwischen wieder unter Kontrolle.

Sie atmete tief durch, bevor sie bedächtig antwortete und dabei auf das nicht sehr kunstvoll geschmiedete Kruzifix aus poliertem Kupfer starrte. Niemand von Rang und Namen würde ein so billiges Stück besitzen.

»Es bedeutet, daß wir jetzt Äbtissin Draigen herbeirufen sollten, gute Schwester. Wer auch immer dieses arme, kopflose Mädchen war, ich bin überzeugt, daß es sich um eine der Unsrigen handelte. Um eine Schwester im Glauben.«

Aus der Ferne, von dem winzigen Turm, der sich über ihrer Abtei erhob, hörten sie das Schlagen des Gongs, der das Verstreichen einer weiteren Zeitspanne verkündete. Die Wolken wurden plötzlich dichter und verdeckten den Himmel. Eisiger Schnee trieb über die Berge.

Kapitel 2

Die Foracha, die Bark von Kapitän Ross aus Ros Ailithir, kam auf ihrer Reise entlang der Südküste des irischen Königreiches Muman flott voran. Ihre Segel blähten sich im eisigen Ostwind, der das Schiff fast zum Beidrehen zwang und der durch die Seile der Takelage pfiff, als spiele er auf dem straff gespannten Tauwerk wie auf den Saiten einer Harfe. Der Tag versprach sehr schön zu werden, abgesehen von den stürmischen Winden, die von der fernen Küste übers Meer heranbrausten. Ein Schwarm Seevögel umkreiste das kleine Schiff und peitschte mit den Flügeln gegen die Sturmböen an, um nicht weggeweht zu werden. Möwen stießen ihre seltsam traurigen Klageschreie aus. Kormorane, unempfindlich gegen die Kälte, stürzten sich in die Wellen und tauchten mit ihrer Beute wieder auf, ohne die eifersüchtigen Schreie der Möwen und Sturmschwalben zu beachten. Unter den Seevögeln befanden sich auch einige Exemplare der Spezies, nach der die Foracha benannt war - Lummen mit ihren dunkelbraunen Ober- und leuchtendweißen Unterseiten. In strenger Formation inspizierten sie das Schiff und drehten dann zu ihren dichtbevölkerten Kolonien an den steilen Hängen der Klippen ab.

Neben dem Steuermann an der Ruderpinne stand breitbeinig Ross, der Kapitän des Schiffes, und hielt sich mühelos im Gleichgewicht, während der Wind die Wellen gegen die kleine barc peitschte, die nach Steuerbord krängte und allmählich immer stärker ins Schlingern geriet, bis sie unausweichlich in die Katastrophe zu treiben schien. Doch dann hob sich ihr Bug jedes Mal über die Welle, sackte nach unten und richtete sie wieder nach Backbord auf. Trotz der schlingernden Bewegungen des Schiffes stand Ross freihändig da. Vierzig Jahre auf See hatten ihn gelehrt, jedes Stampfen und Rollen mit einer automatischen Verschiebung des Körpergewichts auszugleichen, ohne sich von der Stelle zu bewegen. An Land reagierte Ross oft launisch und gereizt, auf dem Wasser dage-gen war er in seinem Element: er spürte selbst die kleinsten Stimmungsschwankungen des Meeres und wurde so zum lebenden Bestandteil seiner schnell dahinsegelnden barc. In seinen tiefgrünen Augen spiegelten sich die wechselhaften Launen der See, und ihr Blick ruhte anerkennend auf den sechs Männern seiner Besatzung, die unbeirrbar ihre Arbeit verrichteten.

Seinen hellen Augen entging nichts, weder unten im Wasser noch oben am Himmel. Einige der hoch über ihm flatternden Vögel bekam man im Winter nur selten zu sehen, und Ross führte ihre späte Anwesenheit auf das milde Herbstwetter zurück, das erst vor kurzem der winterlichen Kälte gewichen war.

Kapitän Ross war ein kleiner, untersetzter Mann mit leicht ergrautem, kurzgeschnittenem Haar, und der Seewind hatte seine Haut tief gebräunt. Er war ein mürrischer Mensch, der sogleich losbrüllte, wenn ihm etwas mißfiel.

Der hochgewachsene Steuermann neben ihm, dessen knotige Hände beinahe zärtlich auf der Ruderpinne lagen, kniff plötzlich die Augen zusammen und warf einen Blick zu Ross hinüber.

»Käpt’n ...«, begann er.

»Ich sehe es, Odar«, entgegnete Ross, bevor der andere auch nur ausreden konnte. »Ich habe es schon seit einer halben Stunde beobachtet.«

Odar, der Steuermann, schluckte und schaute seinen Kapitän überrascht an. Bei dem Gegenstand, über den sie sprachen, handelte es sich um ein hochseetüchtiges Schiff mit hohen Masten, das etwa eine Meile von der kleineren barc entfernt dahinsegelte. Es war schon seit geraumer Zeit in Sichtweite gewesen, doch erst vor wenigen Minuten war dem Steuermann aufgefallen, daß irgend etwas mit dem Schiff nicht stimmte: es fuhr mit vollen Segeln und ragte auffallend hoch aus dem Wasser heraus. Nicht viel Ballast an Bord, hatte er bei sich gedacht, doch das Merkwürdigste war, daß es scheinbar ziellos dahinfuhr und schon zwei Mal so plötzlich und unberechenbar den Kurs geändert hatte, daß Odar befürchtete, es werde gleich kentern. Ihm war auch nicht entgangen, daß das Topsegel nicht ordnungsgemäß befestigt war und beliebig in alle Richtungen schwenkte, so daß er sich entschloß, den Kapitän darauf aufmerksam zu machen.

Es war beileibe keine eitle Angeberei, wenn Ross behauptete, das Schiff schon seit einer halben Stunde beobachtet zu haben. Als er es bemerkte, war ihm fast augenblicklich klar gewesen, daß es entweder von unfähigen Seeleuten gesteuert wurde oder daß an Bord etwas nicht stimmte. Mit jedem neuen Windstoß blähten sich die Segel und fielen wieder in sich zusammen, ohne daß jemand den Kurs des Schiffes korrigierte.

»Wenn es weiter in diese Richtung fährt, Käpt’n«, brummte Odar, »wird es bald auf die Felsen auflaufen.«

Ross antwortete nicht, denn er war bereits zu dem gleichen Schluß gelangt. Er wußte, daß etwa eine Meile entfernt, halb vom Wasser bedeckt, schwarze Granitfelsen lagen, an denen die Gischt schäumend ablief, wenn die Wellen mit Donnertosen über ihnen zusammenschlugen. Unter Wasser waren die Granitsäu-len von einem Ring von Riffen umgeben, die ein Schiff mit geringem Tiefgang, wie seine barc, leicht passieren konnte, während das Hochseeschiff dort keine Chance hatte.

Ross seufzte leise.

»Haltet Euch klar zum Beidrehen, Odar«, knurrte er den Steuermann an und schrie dann seiner Mannschaft zu: »Alles klar zum Losmachen des Hauptsegels!«

Gewandt und präzise änderte die Foracha ihren Kurs, so daß sie vor dem Wind segelte und regelrecht über die Wellen flog. Sie raste auf das riesige Schiff zu, bis sie nur noch eine Taulänge entfernt war. Dann trat Ross vorn an die Reling und formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund.

»Ahoi!« schrie er. »Ahoi!«

Von dem hoch aufragenden, dunklen Schiff kam keine Antwort.

Plötzlich, ohne Vorwarnung, drehte der Wind. Der hohe, dunkle Bug des Hochseeschiffes schwenkte genau in ihre Richtung, die Segel blähten sich, und es hielt auf sie zu wie ein rasendes Seeungeheuer.