Fidelma war überrascht, daß Bruder Febal seine Anschuldigung plötzlich präzisierte.
»Das werde ich tun. Doch erlaubt mir, Bruder, Euch daran zu erinnern, daß Haß kein Grundsatz unseres Glaubens ist. Sprach Johannes nicht mit den Worten unseres Erlösers: >Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebt habe, auf daß auch ihr einander liebhabt.««
Bruder Febal stieß ein verbittertes Lachen aus.
»Christus sprach von der Nächstenliebe. Draigen aber ist eine Schlange, eine Teufelin . der Teufel. Und ruft Petrus uns nicht auf, den Teufel zu hassen und wachsam zu sein? Ich halte mich an Petrus, und ich hasse die Schlange, die zum Oberhaupt dieser Gemeinschaft wurde.«
Febals Wut auf die Äbtissin war so heftig, daß die Kluft zwischen ihnen mit gesundem Menschenverstand niemals zu überbrücken war.
»Dann hat Euch also lediglich Eure Wut dazu veranlaßt, Adnar gegenüber zu behaupten, die Tote ohne Kopf sei vermutlich von seiner Schwester ermordet worden? Welche Begründungen habt Ihr sonst für Eure Anschuldigung? Erzählt mir bloß nicht, das sei Ja allgemein bekannt.«
Febal warf ihr einen raschen Blick zu.
»Ihr wißt also nicht, daß Draigen schon einmal getötet hat?«
Diese Antwort hatte Fidelma nicht erwartet.
»Einen solchen Vorwurf müßt Ihr erst einmal beweisen. Wen hat sie getötet?«
»Eine alte Frau, die in den Wäldern dieser Gegend hauste.«
»Wann war das?«
»Kurz bevor sie in die Gemeinschaft eintrat, mit fünfzehn.«
»Ach so? Dann wart Ihr also nicht unmittelbar Zeuge dieser Tat?«
»Nein. Aber die Geschichte ist bekannt.«
»Ah. Sie ist bekannt«, wiederholte sie mit sarkastischem Unterton. »Und wem ist sie bekannt?«
»Es gab Gerüchte .«
»Gerüchte sind keine Beweise ...«
»Dann fragt Schwester Bronach.«
»Warum Schwester Bronach?«
»Die Alte, die Draigen getötet hat, war Bronachs Mutter.«
Sprachlos vor Staunen starrte Schwester Fidelma Febal an.
»Laßt mich das noch mal klarstellen«, sagte sie nach einer Weile leise. »Wollt Ihr damit sagen, daß Äbtissin Draigen die Mutter von Bronach getötet hat? Derselben Bronach, die heute ihre doirseor ist?«
»Derselben«, brummte Febal gleichgültig.
»Und wollt Ihr damit sagen, daß Bronach das weiß?«
»Selbstverständlich. Fragt sie, wenn Ihr mir nicht glaubt. Und sie wird auch bestätigen, daß Lerben mit der Äbtissin das Lager teilt.«
Fidelma schwieg.
»Ich bin sicher, daß Ihr alles glaubt, was Ihr da sagt«, bemerkte sie nach einer Weile. »Eine so absonderliche Geschichte muß einfach der Wahrheit entsprechen, denn wenn sie gelogen wäre, könnte man das mühelos herausfinden. Ihr habt jedoch noch nicht erzählt, ob es sich um eine rechtswidrige Tötung handelte.«
»Gibt es denn eine Tötung, die rechtens wäre?« höhnte Febal.
»Das ist wahr, aber manche Tötungen können als schlimmer beurteilt werden als andere. Kaltblütiger, vorsätzlicher Mord zum Beispiel. Sind Euch Tatsachen über diesen Fall bekannt?«
Der stattliche Glaubensbruder zuckte die Achseln.
»Mir wäre es lieber, Ihr erfährt Eure Tatsachen von Schwester Bronach. Dann könnt Ihr wenigstens nicht behaupten, ich hätte Euch etwas Falsches erzählt.«
»Wie Ihr wollt. Dennoch ist es ein langer Weg von einer Tötung vor zwanzig Jahren bis zu Euerm Verdacht, daß Draigen die Person ermordet hat, deren Leichnam im Brunnen dieses Klosters gefunden wurde. Und falls sie tatsächlich für deren Tod verantwortlich wäre, müßte man daraus den logischen Schluß ziehen, daß sie auch für den Tod von Schwester Siom-ha die Verantwortung trägt.«
Bruder Febal machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Das liegt durchaus im Bereich des Möglichen, Schwester Fidelma.«
»Zugegeben. Falls Eure Behauptungen zutreffen.«
Augenblicklich brauste Bruder Febal empört auf.
»Wollt Ihr mich der Lüge bezichtigen?«
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Laßt uns genauer betrachten, was Ihr mir erzählt habt. Ihr sagt, Ihr habt gehört, daß Draigen jemanden getötet hat, bevor sie hierher in die Abtei kam. Ihr sagt, es gebe Gerüchte, daß Draigen junge Novizinnen in ihr Bett einlädt. Selbst wenn Ihr das beweisen könntet, ist letzteres nicht strafbar.«
»Es ist strafbar vor Gott!« brummte Febal böse.
»So, Ihr sprecht also auch im Namen Gottes?« bemerkte Fidelma leise. Dann sagte sie in schärferem Ton: »Ihr habt mir nichts erzählt, was vor einem Gericht gegen Draigen verwendet werden könnte, um nachzuweisen, daß sie für die beiden Todesfälle in der Abtei verantwortlich ist. Aber Ihr habt Behauptungen aufgestellt, durch die Ihr Euch sehr wohl schuldig gemacht haben könntet, böswillige Verleumdungen zu verbreiten und Draigens Ruf in den Schmutz zu ziehen. Ein guter Anwalt könnte Eure Behauptungen zerpflücken, allein schon aufgrund der Tatsache, daß Ihr mit Draigen verheiratet wart und in der Abtei Eures Amtes enthoben wurdet, bevor sie Euch schließlich ganz von dort vertrieb. Wenn es um Beweise und Gesetze geht, ist Eure Position äußerst angreifbar, Fe-bal.«
Bruder Febal erhob sich.
»Ich habe von Euch nichts anderes erwartet.«
Ruhig erwiderte Fidelma seinen wütenden Blick.
»Das solltet Ihr mir erklären«, forderte sie ihn mit eiskalter Stimme auf.
»Ihr seid eine Frau! >Laßt jeden pflichtbewußten Menschen die stolze Zunge einer Frau meiden!< Ihr haltet doch alle zusammen und deckt Euch gegenseitig.«
»Ihr habt das Gedicht falsch zitiert«, wies ihn Fidelma zurecht.
»Das spielt keine Rolle. Der Sinn ist derselbe. Ich habe gehört, daß Ihr eine Vorliebe für die griechischen und lateinischen Weisen habt. Ich habe hier ein Zitat für Euch, Fidelma von Kildare. Es stammt von Euripides: >Die Frau ist die natürliche Verbündete der Frau<. Ich hätte damit rechnen müssen, daß Ihr alles daransetzen werdet, Draigen zu decken - schließlich ist sie eine Frau, genau wie Ihr.«
Fidelma verschränkte bedächtig die Arme vor der Brust und zwang sich zu einem freundlichen Lächeln.
»Ich nehme Euch das nicht übel, Febal. Es ist Euer Haß auf Draigen, der Euch zu solchen Reden verleitet. Geht zurück nach Dun Boi und beruhigt Euch. Es steckt sehr viel Wut in Euch.«
Bruder Febal schwankte, als habe er das Gleichgewicht verloren, und schien zu überlegen, ob er noch etwas sagen sollte. Dann drehte er sich um und ging mit großen Schritten davon. Sein Gang und seine hochgezogenen Schultern verrieten seinen Zorn.
Fidelma sah ihm nach, bis er hinter der nächsten Biegung der Küste verschwunden war.
Plötzlich spürte sie eine schreckliche Traurigkeit. Und fühlte sich sehr einsam.
Wenn sie Menschen begegnete, die so verbittert waren, wurde sie immer traurig. Und ihr war sofort bewußt, warum sie sich so einsam fühlte: sie dachte an Bruder Eadulf. Er war ein Mann, der das Leben und die Menschen liebte. In ihm war keine Bosheit. Bosheit. Warum hatte sie gerade dieses Wort gewählt? Bosheit war genau das, was sie in Febal spürte. Seine Feindseligkeit war mit Böswilligkeit durchtränkt.
Es ist wahr: nach einem einschneidenden Erlebnis sucht der Mensch oft nach Rechtfertigungen für seine Gefühle. Er sieht die Dinge dann häufig ganz anders als zuvor. Sicherlich fand sich Weiberhaß in Finnians Bußvorschriften, die Febal als Rechtfertigung für seine Haßgefühle verstehen könnte, doch vielleicht hatte sein Haß ganz andere Wurzeln. Und ein Mann, der zum Haß fähig war, zu leidenschaftlichen Gefühlen, ein solcher Mann konnte durchaus fähig sein, diese Gefühle auch auf anderen Wegen zum Ausdruck zu bringen. Auch durch Mord.
Fidelma stand auf und reckte sich und verspürte plötzlich Unbehagen. Nein, Widerwillen. Nicht so sehr gegen die Frauenfeindlichkeit eines einzelnen Mannes wie Febal, sondern gegen eine ganze Bewegung unter den Anhängern des Glaubens, die er vertrat. Fidelma war in ihrer Kultur zutiefst verwurzelt, doch das Christentum veränderte diese Kultur. Die neuen Ideen aus Griechenland, Rom und aus anderen Ländern, die in die Entwicklung der neuen Religion einflossen, beeinflußten allmählich die weltanschaulichen Grundlagen der irischen Kirche. Es waren Frauen gewesen, ebenso wie Männer, die die fünf Königreiche zum Christentum bekehrt hatten - jeder Frauenname eine Legende: die fünf Schwestern von Patrick, dem Obersten Apostel von Irland, und Frauen wie Darerca, Brigida, Ida, Etain sowie zahllose andere.