Aber nach zweihundert Jahren Christentum hatte sich eine Gruppe von Kirchenvertretern, darunter sogar einige Frauen, zusammengefunden, die das irische Zivilrecht nicht anerkannte. Unter der Führung des Finnian von Clonard hatten sie ein Kirchenrecht geschaffen, mit dem sie das Fénechus-Gesetz, das in den fünf Königreichen galt, ersetzen wollten.
Febal hatte die Bußvorschriften des Cummean erwähnt, die von Finnians Gesetzen angeregt worden waren. Sie wurden nun, mit ausdrücklicher Billigung Ultans von Armagh, von Kloster zu Kloster verkündet. Cummean war erst vor vier Jahren gestorben, und schon bekannten sich einige der männlichen Anhänger des Glaubens zu seinem Kirchenrecht, das, genau wie Febals Ansichten, auf den Lehren des Paulus von Tarsus beruhte.
Fidelma hatte guten Grund, sich an den Bußvorschriften des Cummean zu stoßen. Cummean war verantwortlich für den tragischen Tod ihrer Freundin aus Kindertagen, Liadin, die mit ihr zusammen in Cashel erzogen wurde. Liadin war Nonne geworden und außerdem eine ausgesprochen begabte Dichterin. Sie verliebte sich in Cuirithir, einen Dichter aus dem Königreich von Connacht. Der Abt der Gemeinschaft, der Cuirithir angehörte, war Cummean. Er forderte von seinen Untergebenen eine sehr harte Selbstzucht, und er schickte Cuirithir in die Fremde und untersagte ihm, Liadin jemals wiederzusehen. Als Begründung dienten ihm die Lehren des Paulus von Tarsus. Cui-rithir verließ Irland und ward nie wieder gesehen. Liadin wurde bald darauf krank und starb als gebrochener, unglücklicher Mensch. Ihr Kummer war grenzenlos gewesen.
Fidelma hielt nicht viel von Gesetzen, die die Menschen ohne ersichtlichen Grund unglücklich machten und ihnen ihr höchstes Gut nahmen - die Liebe. Lia-din und Cuirithir hätten Cummeans übertriebenes Asketentum ignorieren und stark genug sein müssen, um gemeinsam fortzugehen. Während sie im Sterben lag, hatte Liadin ihr letztes Lied geschrieben, das mit folgenden Versen endete:
Warum sollte ich verbergen,
was mein Herz noch immer begehrt,
mehr als alles in der Welt.
Ein glühendheißer Liebessturm brachte mein Herz zum Schmelzen.
Ohne seine Liebe kann es nimmermehr schlagen.
Wenige Tage später hatte sie ihr Herz tatsächlich dazu gebracht, daß es nicht mehr schlug.
Fidelma stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. Sie sollte nicht an diese Dinge denken. Sie sollte keine moralischen Urteile fällen, sondern nach Beweisen suchen, anhand deren sie die Schuldigen an den beiden entsetzlichen Morden dingfest machen konnte.
Zumindest war ihr nächster Schritt jetzt klar. Sie mußte ein längeres Gespräch mit Schwester Bronach führen.
Sie erhob sich und begann am Strand entlang zu dem hölzernen Anlegesteg zurückzugehen.
Als sie die Stufen zum Kai erklomm, bemerkte sie plötzlich vor dem Grün und Braun der fernen Hügel, die die Durchfahrt zur Meerenge umschlossen, ein weißes Segel. Von Adnars Festung erschallte ein Horn weit über die kleine Bucht, das offensichtlich die Einfahrt des Schiffes in die Meerenge ankündigen sollte.
Fidelma hob die Hand, um ihre Augen gegen die Sonne abzuschirmen, und spähte über die glitzernde Wasserfläche.
Plötzlich begann ihr Herz schneller zu schlagen.
Es war die Foracha, die barc von Ross, die zügig und sicher in den Hafen segelte.
Febal und Draigen waren augenblicklich vergessen. Ihre Gedanken kreisten nur noch darum, welche Nachrichten Ross wohl mitbringen mochte, und um das Geheimnis des gallischen Handelsschiffes. Und was noch wichtiger war, ihr Herz schlug nun eher aus Angst - Angst vor den Neuigkeiten, die er womöglich über das Schicksal von Bruder Eadulf erfahren hatte.
Kapitel 12
Fidelma hatte die Längsseite der barc schon erreicht, bevor Ross’ Besatzungsmitglieder mit dem Niederholen der Segel fertig waren. Das Boot, das sie am Anlagesteg der Abtei genommen hatte, war förmlich über das Wasser geflogen, so hatte sie sich in die Riemen gelegt, und war, ehe sie sich versah, mit dem Bug gegen die Seitenwand der Foracha gestoßen. Man half ihr, an Bord zu klettern, während ein Matrose ihr Boot mit einem Seil festmachte.
Ross begrüßte sie mit einem Lächeln.
»Was gibt’s Neues?« fragte Fidelma atemlos, noch bevor sie seine Begrüßung erwidert hatte.
Ross deutete auf seine Kajüte im Achterschiff.
»Laßt uns hineingehen und in Ruhe reden«, sagte er, während sein Gesichtsausdruck ernst wurde.
Fidelma mußte ihre Neugier zügeln, bis sie in der Kajüte Platz genommen und Ross ihr ein irdenes Trinkgefäß mit cuirm angeboten hatte, das sie jedoch ablehnte. Er selbst goß sich einen Becher voll und nippte bedächtig daran.
»Was gibt’s Neues?« drängte sie.
»Ich habe die Stelle gefunden, an der das gallische Handelsschiff vor drei Nächten lag.«
»Gibt es irgendeine Spur von Ead ... der Besatzung oder den Passagieren?« wollte Fidelma wissen.
»Ich muß Euch alles der Reihe nach erzählen, Schwester. Aber Spuren gab es von niemandem.«
Fidelma war ihre Enttäuschung deutlich anzusehen.
»Also erzählt mir die Geschichte, Ross. Wie habt Ihr das, was Ihr wißt, in Erfahrung gebracht?«
»Wie ich schon sagte, bevor ich von hier losfuhr: nach den Strömungen und Winden zu urteilen, gab es zwei mögliche Stellen, von wo das gallische Schiff gekommen sein konnte. Die erste lag an der Landzunge im Südosten, die man Schafskopf nennt. Dorthin segelte ich zuerst. Wir umrundeten sie, konnten jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Fischer berichteten uns, sie hätten ihre Netze die ganze Woche über dort ausgeworfen und nichts gesehen. Also beschloß ich, zu der zweiten möglichen Stelle zu fahren.«
»Die wo lag?«
»An der Spitze dieser Halbinsel.«
»Erzählt weiter.«
»Vor der Spitze der Halbinsel erstreckt sich ein langgezogenes Eiland, das man Doirse nennt, was, wie Ihr sicher wißt, >Die Tore< bedeutet, denn in gewisser Weise bildet es das südwestliche Tor zu unserem Land. Wir umsegelten diese Insel, konnten jedoch erneut nichts Ungewöhnliches feststellen. Ich treibe hin und wieder mit den Inselbewohnern Handel, also dachte ich, ich laufe dort in den Hafen ein und sehe mal, welchen Klatsch und Tratsch ich aufschnappen kann. Wir gingen an Land, und ich bat meine Männer, die Ohren zu spitzen, sobald sie etwas über das gallische Schiff hörten. Wir brauchten nicht lange zu suchen.«
Er hielt inne und trank einen Schluck.
»Was habt Ihr erfahren?« bestürmte ihn Fidelma.
»Das gallische Schiff hatte dort im Hafen festgemacht. Aber was man uns erzählte, klang äußerst merkwürdig: an dem Abend, bevor uns das Schiff auf hoher See begegnete, war es von fremden Kriegern in den Inselhafen gesteuert worden.«
»Von fremden Kriegern? Galliern?«
Ross schüttelte den Kopf.
»Nein. Von Kriegern vom Stamm der Ui Fidgenti.«
Fidelma ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken.
»Sie hatten aber einen gallischen Gefangenen bei sich.«
»Nur einen einzelnen gallischen Gefangenen? Und keine Spur von einem sächsischen Mönch?« Fidelma war zutiefst enttäuscht.
»Nein. Der Gefangene war offenbar ein Seemann. Gastfreundlich, wie sie sind, luden die Inselbewohner die Krieger an Land ein, denn sie schienen keinerlei