Vorräte an Bord zu haben. Ein Wachposten wurde bei dem Gefangenen auf dem Schiff zurückgelassen. Am nächsten Morgen stellten die Leute fest, daß das Schiff verschwunden war - offenbar einfach davongesegelt, während die Fremden, dank der Gastfreundschaft der Inselbewohner, ihren Rausch ausschliefen. Der Krieger, der als Wache an Bord geblieben war, wurde im Hafen angeschwemmt - tot.«
»Welche Schlüsse zogen sie daraus?«
»Daß der gallische Gefangene sich irgendwie befreit, den Wachposten überwältigt und über Bord geworfen hatte und mit dem Schiff aus dem Hafen gesegelt war.«
»Ein einzelner Mann? Mit einem so großen Schiff? Ist das denn möglich?«
Ross zuckte die Achseln.
»Wenn er erfahren und entschlossen genug war, Ja.«
»Was dann?«
»Die Krieger waren wütend und beschlagnahmten mehrere Schiffe der Inselbewohner, um über die Meerenge zum Festland zu gelangen.«
Fidelma dachte über das Gehörte nach.
»Wirklich eine merkwürdige Geschichte. Das gallische Handelsschiff wird von einem Trupp Krieger von den Ui Fidgenti in den Hafen von Doirse gesegelt, mit einem einzelnen gallischen Matrosen als Gefangenen. Das Schiff wird vertäut. Am Morgen ist es, zusammen mit dem gallischen Matrosen, verschwunden. Die Krieger setzen wieder auf die Halbinsel über. Am gleichen Morgen, etwa gegen Mittag, begegnen wir dem Schiff, das unter vollen Segeln fährt - ohne einen Mann an Bord.«
»Das ist die Geschichte - so merkwürdig sie auch klingt.«
»Kann man denn den Dingen, die Ihr auf der Insel aufgeschnappt habt - Doirse, wie Ihr sie nennt -, auch trauen?«
»Den Leuten auf jeden Fall«, versicherte Ross. »Ich treibe schon seit Jahren Handel mit ihnen. Sie sind ein unabhängiges Völkchen und betrachten sich nicht als Untertanen von Gulban, dem Falkenauge - auch wenn es sich genau genommen um sein Gebiet handelt -, sondern fühlen sich in erster Linie ihrem bo-aire verpflichtet. Ihnen liegt also nichts daran, die Geheimnisse der Festlandbewohner zu wahren.«
»Wißt Ihr, ob die Krieger der Ui Fidgenti dem dortigen bo-aire irgendeine Erklärung gaben, was sie mit dem gallischen Schiff vorhatten?«
»Es war die Rede davon, daß es Waren zu den Minen auf dem Festland brachte.«
Fidelma hob ruckartig den Kopf.
»Minen? Sind zufällig Kupferminen gemeint?«
Ross betrachtete sie eindringlich, bevor er nickte.
»Gegenüber von Doirse gibt es auf dem Festland in der nächsten Bucht mehrere Minen, in denen Kupfer abgebaut wird. Sie treiben nicht nur entlang der Küste Handel, sondern auch mit Gallien.«
Fidelma trommelte mit den Fingern auf den Tisch und runzelte die Stirn, während sie nachdachte.
»Erinnert Ihr Euch an den roten, lehmartigen Schlamm im Laderaum des gallischen Schiffes?« fragte sie.
Ross nickte.
»Ich glaube, er stammte aus einer Kupfermine oder einem Kupferlager. Vielleicht finden wir dort die Lösung des Rätsels. Dennoch begreife ich nicht, warum Männer der Ui Fidgenti das Schiff segelten. Ihr Stammesgebiet liegt doch viel weiter nördlich von hier. Wo waren die Männer von Beara, von Gulbans Stamm?«
»Ich könnte zurückfahren und mich bemühen, noch mehr herauszufinden«, erbot sich Ross. »Oder ich könnte zu den Minen segeln, so tun, als suchte ich Handelsware, und mich dort umsehen.«
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Zu gefährlich. Wir haben es hier mit einem Geheimnis zu tun, das noch dadurch verzwickter wird, daß Torcan, der Sohn des Prinzen der Ui Fidgenti, als Gast auf Adnars Festung weilt.«
Ross’ Augen weiteten sich.
»Und da besteht auf jeden Fall ein Zusammenhang?«
»Aber ein Zusammenhang womit? Ich glaube, dieses Geheimnis birgt viele Gefahren. Wenn Ihr zurücksegelt, könntet Ihr Verdacht erregen. Wir sollten niemanden unnötig auf uns aufmerksam machen. Zuerst müssen wir herausfinden, womit wir es überhaupt zu tun haben. Wie weit sind die Kupferminen von hier entfernt?«
»Etwa zwei bis drei Stunden mit dem Schiff, wenn man sich nah an der Küste hält.«
»Und wenn man einfach die Halbinsel überquert? Wie viele Meilen sind es dann?«
»Wie viele Meilen ein Vogel fliegen würde? Fünf. Wenn man sich einen Weg über die Berge sucht, höchstens zehn.«
Fidelma schwieg und überlegte.
»Was sollen wir tun?« drängte Ross.
Fidelma hob den Kopf. Sie war zu dem Schluß gekommen, daß sie sich die Minen genauer ansehen sollte.
»Heute Nacht, im Schutz der Dunkelheit, reiten wir über die Halbinsel zu den Kupferminen. Ich habe das Gefühl, daß wir dort der Lösung ein ganzes Stück näher kommen könnten.«
»Warum reiten wir nicht jetzt? Auf einem der Gehöfte weiter unten an der Küste könnte ich problemlos Pferde kaufen.«
»Nein, wir warten bis Mitternacht, und zwar aus zwei Gründen. Erstens, weil wir nicht wollen, daß jemand von unserem Ausflug zu den Minen erfährt. Falls Torcan oder Adnar in ungesetzliche Angelegenheiten verstrickt sind, wollen wir sie doch nicht auf unser Vorhaben aufmerksam machen. Zweitens habe ich für heute abend eine Einladung zu einem Festessen in Dun Boi angenommen, mit Adnar und seinen Gästen, Torcan und Olcan. Vielleicht erweist sich das als durchaus vorteilhaft - wer weiß, was ich dort zu hören bekomme.«
Ross war alles andere als begeistert.
»Die Sache mit den Ui Fidgenti gefällt mir gar nicht, Schwester. Schon seit Wochen kursieren Gerüchte entlang der Küste. Man sagt, Eoganan von den Ui Fidgenti habe ein Auge auf Cashel geworfen.«
Fidelma lächelte matt.
»Ist das alles? Die Ui Fidgenti haben schon immer nach dem Königsthron in Cashel geschielt. Haben sie sich nicht vor fünfundzwanzig Jahren gegen Cashel erhoben, als Aed Slane dort Oberkönig war?«
Die Ui Fidgenti waren ein großer Stamm im Westen des Königreichs Muman, dessen Prinzen und Häuptlinge es vorzogen, sich Könige zu nennen, und die behaupteten, sie seien die wahren Nachkommen der ersten Könige von Cashel und hätten ältere Ansprüche auf den Thron als Fidelmas Familie. Bei Fidelmas Geburt war ihr Vater König von Cashel gewesen, und jetzt saß ihr Bruder Colgu als Nachfolger seines Cousins auf dem Thron des Unterkönigs von Muman und war als solcher einzig und allein dem Oberkönig gegenüber verantwortlich. Fidelma war seit ihrer Kindheit mit den Behauptungen der Ui Fid-genti vertraut. Sie setzten alles daran, ihrer Familie das Königtum von Cashel streitig zu machen, und keiner hatte seine angeblichen Ansprüche bisher lautstarker vertreten als der gegenwärtige Prinz, Eoganan.
Ross runzelte mißbilligend die Stirn.
»Was Ihr sagt, ist richtig, Schwester. Doch Euer Bruder sitzt erst seit wenigen Monaten auf dem Thron. Er ist jung und unerfahren. Falls Eoganan von den Ui Fidgenti versuchen wollte, Colgu zu stürzen, so wäre jetzt der günstigste Zeitpunkt.«
»Was soll er denn versuchen? Die große Versammlung in Cashel hat meinen Bruder in seinem Amt bestätigt, und der Oberkönig hat von Tara aus diese Entscheidung gebilligt.«
»Wer weiß, was Eoganan plant? Überall an der Küste kursieren Gerüchte, daß sich etwas zusammenbraut.«
Fidelma dachte gründlich über die Lage nach.
»Um so mehr Grund für mich, an dem Festessen heute abend teilzunehmen, denn vielleicht verrät Tor-can mir etwas über die Pläne seines Vaters.«
»Ihr bringt Euch damit höchstens in Gefahr«, warnte Ross. »Torcan wird zweifellos herausfinden, wer Ihr seid ...«
»Daß ich die Schwester von Colgu bin? Wir sind uns gestern im Wald begegnet. Er weiß es bereits.«
Sie hielt inne, runzelte die Stirn und dachte an den Pfeil, der ihrem Leben beinahe ein Ende gesetzt hätte. Könnte Torcan diesen Pfeil absichtlich auf sie abgeschossen haben, wohl wissend, daß sie Colgus Schwester war? Aber warum sollte er ihr nach dem Leben trachten? Sie hatte mit der Thronfolge in Cashel nichts zu tun. Nein, darin lag keinerlei Logik. Außerdem hatten sowohl Torcan als auch seine Männer überrascht reagiert, als sie erfuhren, wer sie war, und sich bemüht, ihren Fehler zu bemänteln. Falls Torcan den Pfeil doch mit Absicht abgeschossen hatte, dann hatte er jedenfalls nicht ihr gegolten. Es wäre ein leichtes für ihn gewesen, Fidelma im Wald zu töten.