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Ross musterte prüfend ihren Gesichtsausdruck.

»Ist bereits irgend etwas vorgefallen?« fragte er instinktiv.

»Nein«, log sie schnell. »Zumindest«, korrigierte sie sich, nachdem sie plötzlich Schuldgefühle verspürte, »nichts, was unseren Plan ändern könnte. Um Mitternacht, nach dem Festessen in Dun Boi, treffe ich mich mit Euch und einem Eurer Männer im Wald hinter der Abtei. Beschafft drei Pferde, ohne dabei Verdacht zu erregen.«

»Wie Ihr wünscht. Ich nehme Odar mit, er ist genau der Richtige für unser Vorhaben. Aber wenn Tor-can auch an dem Festessen teilnimmt, wäre es mir lieber, Ihr würdet nicht hingehen.«

»Einer Beamtin der irischen Gerichtsbarkeit wird niemand ein Leid zufügen - das würden weder König noch Bürger wagen«, verkündete Fidelma zuversichtlich, doch noch während sie die Worte aussprach, wünschte sie, sie könnte wahrhaftig daran glauben.

Fidelma erhob sich, und Ross folgte ihr hinaus aufs Deck. Es lag auf der Hand, daß er ihren Plan nicht vorbehaltlos billigte, doch in Ermangelung einer besseren Idee willigte er ein.

Sie wollte gerade an der Außenseite des Schiffes hinunterklettern, als er fragte: »Wie geht es eigentlich mit dem Fall voran, dessentwegen Ihr gekommen seid?« Er deutete mit dem Daumen zur Abtei hinüber. Der ursprüngliche Grund, der Fidelma hierhergeführt hatte, war fast in Vergessenheit geraten. »Habt Ihr das Rätsel inzwischen gelöst?«

Fidelma fühlte sich schuldig, weil sie nach Ross’ Rückkehr und aufgrund seiner Neuigkeiten kaum noch einen Gedanken an das Geheimnis des Leichnams ohne Kopf und an Schwester Siomhas Ermordung verschwendet hatte.

»Noch nicht.« Mit betretener Miene fügte sie hinzu: »In der Abtei ist noch ein weiterer Mord geschehen. Wir fanden die rechtaire, Schwester Siomha, auf die gleiche Weise getötet wie die Unbekannte. Ich glaube jedoch, daß sich der Schleier des Geheimnisses zu lüften beginnt. Es gibt viel Böses in der Abtei.«

»Falls Ihr je in Gefahr geraten solltet ...«. Ross zögerte verlegen. »Ihr könnt mich und jeden meiner Männer jederzeit um Hilfe bitten. Vielleicht wäre es besser für Euch, von jetzt an einen Leibwächter bei Euch zu haben.«

»Um das Wild darauf aufmerksam zu machen, daß die Jäger ihm bereits dicht auf den Fersen sind?«

Schwester Fidelma schüttelte den Kopf, legte ihre Hand auf den Arm des besorgten Seemanns und lächelte.

»Wartet mit Odar und den drei Pferden um Mitternacht im Wald und achtet darauf, daß Euch niemand sieht.«

Man sagte Fidelma, daß sie Schwester Bronach in Ber-rachs Zelle antreffen könne. Sie schritt gerade über den Innenhof auf das Wohnhaus zu, als Bronach mit bedrückter Miene aus dem Eingang trat. Dort zögerte sie und wäre der ddlaigh anscheinend lieber aus dem Weg gegangen, doch Fidelma lief auf sie zu.

»Wie geht es Schwester Berrach?«

Bronach zögerte.

»Im Augenblick schläft sie. Sie hat eine anstrengende Nacht und einen unerfreulichen Morgen hinter sich.«

»Das hat sie allerdings«, stimmte Fidelma zu. »Sie kann sich glücklich schätzen, jemanden wie Euch zur Freundin zu haben. Wollt Ihr mich ein Stück begleiten, Schwester?«

Widerwillig schloß sich Schwester Bronach Fidelma an und schritt langsam neben ihr über den gepflasterten Hof zum Gästehaus hinüber.

»Was wollt Ihr von mir, Schwester?«

»Antworten auf einige Fragen.«

»Ich stehe Euch stets zur Verfügung. Leider hatte ich noch keine Gelegenheit, Euch für das zu danken, was Ihr für Schwester Berrach getan habt.«

»Warum solltet Ihr mir danken?«

Schwester Bronach machte ein abwehrendes Gesicht.

»Ist es denn falsch, jemandem dafür zu danken, daß er einer Freundin das Leben gerettet hat?«

»Ich habe nur getan, was recht war und was jeder gläubige Christ tun sollte. Obwohl einige der Schwestern hier sich offenbar allzu leicht durch Gefühle davon abbringen lassen.«

»Durch Äbtissin Draigen, meint Ihr?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Nichtsdestotrotz«, fuhr Schwester Bronach im Brustton der Überzeugung fort, »habt Ihr genau das gemeint. Euch ist sicher nicht entgangen, daß alle Schwestern hier sehr jung sind? Schwester Comnat, unsere Bibliothekarin, und ich sind die Ältesten. Sonst ist hier keine einzige, außer der Äbtissin, älter als einundzwanzig.«

»Ja, mir ist aufgefallen, wie jung die Schwestern in dieser Abtei sind«, bestätigte Fidelma. »Das finde ich höchst merkwürdig, denn die Idee einer Gemeinschaft ist es Ja gerade, daß die Jungen von der Erfahrung und dem Wissen der Älteren profitieren.«

In Schwester Bronachs Stimme lag ein bitterer Unterton.

»Es gibt einen Grund dafür. Die Äbtissin umgibt sich nicht gerne mit Leuten, die ihre Autorität in Frage stellen könnten. Junge Menschen kann sie manipulieren, aber wir Älteren sind in der Lage, ihre Irrtümer zu erkennen, und wissen häufig weitaus mehr als sie. Sie kann einfach nicht vergessen, daß sie eine arme, ungebildete Bauerntochter war, bevor sie hierherkam.«

»Also mißbilligt Ihr die Äbtissin?«

Schwester Bronach blieb vor dem Eingang zum Gästehaus stehen und blickte sich ängstlich um, als wolle sie sichergehen, daß sie unbeobachtet waren. Dann deutete sie zur Tür.

»Wir gehen besser rein, um zu reden.«

Sie führte Fidelma den Korridor entlang zu einer kleinen Kammer, von wo aus sie ihre Aufgaben als Pförtnerin und Leiterin des Gästehauses erledigte.

»Nehmt Platz, Schwester«, sagte sie und setzte sich auf einen der beiden Holzstühle, die in dem winzigen Raum standen. »Nun, was war noch mal Eure Frage?«

Fidelma ließ sich auf dem anderen Stuhl nieder.

»Ich habe gefragt, ob Ihr Äbtissin Draigen mißbilligt, weil sie eine so junge, unerfahrene Gemeinschaft um sich versammelt? Zweifellos hat sie die Jugend und Unerfahrenheit von Schwester Lerben mißbraucht, um Berrach zu bedrohen. Mißbilligt Ihr Draigens Haltung gegenüber Berrach?«

Schwester Bronach verzog das Gesicht und brachte ihren Widerwillen deutlich zum Ausdruck.

»Jeder vernünftige Mensch würde ein Vorgehen, wie es die Äbtissin vorschlug, verurteilen, auch wenn ich bereit bin einzuräumen, daß es nicht allein Äbtissin Draigens Schuld war.«

»Nicht ihre Schuld?«

»Ich kann mir vorstellen, daß Schwester Lerben auch etwas damit zu tun hat.«

Fidelma war verdutzt.

»Nach meinem Verständnis stand Schwester Ler-ben völlig unter dem Einfluß von Draigen. Sie ist zu jung und war in diesem Spiel nur eine Marionette. Jemand hat mir erzählt, daß eine enge Beziehung zwischen der Äbtissin und Lerben besteht und daß Lerben - vergebt mir meine Offenheit, Schwester - manchmal das Bett mit der Äbtissin teilt. Dieselbe Person sagte mir, daß Ihr das bestätigen könnt.«

Die sonst so verdrossene Nonne begann zu lachen. Fidelma, die in Bronachs ernstem Gesicht noch nie eine Spur von Fröhlichkeit entdeckt hatte, erlebte nun einen Ausbruch echter Heiterkeit.

»Das weiß doch jeder, daß Schwester Lerben das Bett mit der Äbtissin teilt! Ihr seid schon seit zwei Tagen hier und habt noch nicht mitbekommen, daß Lerben Draigens Tochter ist?«

Fidelma war wie vom Donner gerührt.

»Und ich dachte, Lerben ...«, stieß Fidelma überrascht hervor, biß sich dann jedoch auf die Lippen.

Schwester Bronach lächelte belustigt vor sich hin. Ihr trauriges Gesicht wirkte völlig verwandelt, beinahe jung.