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»Ihr dachtet, Lerben sei ihre Geliebte? Na, da hat man Euch Ja schlimme Geschichten erzählt.«

Fidelma war sichtlich bemüht, die Neuigkeit zu verdauen.

»War Schwester Siomha jemals die Geliebte von Draigen?«

»Nicht daß ich wüßte. Und soweit ich das beurteilen kann, gehört Draigen ohnehin nicht zu den Frauen, die sich für derlei fleischliche Beziehungen interessieren. Äbtissin Draigen ist äußerst launisch, oder besser: unberechenbar. Eine Menschenfeindin, eine Frau, die den Männern mißtraut und ihnen lieber aus dem Weg geht. Sie umgibt sich hier mit jungen Frauen, weil sie ihnen intellektuell überlegen ist, doch das hat nicht zwangsläufig etwas mit sexuellen Beziehungen zu tun.«

Fidelmas Gedanken überschlugen sich. Wenn das stimmte, war das Motiv, das Adnar und Bruder Febal vorgetragen hatten und das durchaus plausibel klang, hinfällig. Das änderte ihre Einschätzung der Lage von Grund auf.

»Ich habe viel Klatsch und Tratsch und viele Ver-mutungen über Draigen gehört. Wollt Ihr behaupten, daß all diese Geschichten nicht wahr sind?«

»Ich habe wenig Anlaß, die Äbtissin zu lieben, und ich muß gestehen, daß ich mich auf diesem Gebiet überhaupt nicht auskenne. Äbtissin Draigen umgibt sich einfach gern mit jungen Mädchen, weil die ihr Wissen und ihre Autorität nicht in Frage stellen. Einen anderen Grund sehe ich nicht.«

»Ihr sagt, daß sie allen Männern mißtraut und sie haßt, und doch war sie mit Bruder Febal verheiratet.«

»Febal? Eine Ehe, die nicht einmal ein Jahr hielt. Ich glaube, sie hatten einander verdient. In Wahrheit standen sie sich in nichts nach: er mit seiner Frauenfeindlichkeit, sie mit ihrem Männerhaß. Sie verabscheuten sich gegenseitig.«

»Ihr kanntet Febal, als er hier in der Abtei lebte?«

»O Ja«, antwortete Bronach mit düsterer Miene. »Ich kannte Febal gut.« Einen kurzen Augenblick blitzte es in ihren Augen. »Ich kannte Febal schon, bevor Draigen in die Abtei kam.«

»Warum haben sie geheiratet, wenn sie sich haßten?«

Schwester Bronach zuckte die Achseln.

»Diese Frage müßt Ihr ihnen selbst stellen.«

»Hat die frühere Mutter Oberin, Äbtissin Marga, diese Beziehung gebilligt?«

»Dies war damals ein gemischtes Kloster, und mehrere verheiratete Paare erzogen ihre Kinder hier zu frommen Christen. Marga hatte altmodische Vorstellungen und ermutigte Eheschließungen zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft. Vielleicht war das der Hauptgrund für Draigens Heirat: sie wollte sich Mar-gas Gunst erschmeicheln. Draigen ist eine äußerst berechnende Frau.«

»Ihr lehnt Draigen ab, und doch bleibt Ihr in dieser Abtei. Warum?«

Fidelma suchte in Bronachs Miene nach einer Antwort. Die Glaubensschwester zuckte zusammen, und ein Ausdruck von Schmerz und Befremden schien über ihr Gesicht zu huschen.

»Ich bleibe hier, weil ich hierbleiben muß«, sagte sie ärgerlich.

»Aber Ihr verabscheut Draigen?«

»Sie ist meine Äbtissin.«

»Das ist keine Antwort.«

»Ich kann keine andere Antwort geben.«

»Dann laßt mich Euch helfen. Kanntet Ihr Draigen, als sie noch jung war?«

Schwester Bronach warf Fidelma einen verstohlenen Blick zu. Einen schnellen, abschätzenden Blick.

»Ich kannte sie«, gab sie vorsichtig zu.

»Und hat Eure Mutter sie gekannt?«

Schwester Bronach atmete tief durch und konnte ihren Schmerz nicht länger verbergen.

»So? Ihr habt also von der Geschichte gehört? Es gibt so viele Schwätzer in diesem Land.«

»Ich würde die Geschichte gern von Euch selbst hören, Schwester Bronach.«

Es dauerte eine Weile, bevor Bronach antwortete.

»Ich verabscheue Draigen mit einer Inbrunst, die Ihr nie verstehen würdet«, begann die Pförtnerin. Dann hielt sie inne und verfiel wieder in Schweigen, dieses Mal so lange, daß Fidelma sie gerade drängen wollte, als Bronach sie mit sorgenvollem Blick ansah. »Jeden Tag verbringe ich im Gebet und bitte Gott, den Allmächtigen, meinen Schmerz zu lindern und mir meinen Haß zu nehmen. Er tut es nicht. Ist es also Gottes Wille, daß sich diese Gefühle in mir stauen?«

»Warum bleibt Ihr hier?« drang Fidelma erneut in sie.

Die Antwort klang verbittert.

»Wieso fragt Ihr nicht das Meer, warum es immer an derselben Stelle bleibt? Ich kann nirgendwo anders hingehen. Vielleicht ist das die Strafe für meine Sünden: der Person zu dienen, die meiner Mutter das Leben nahm. Aber versteht mich nicht falsch. Ich würde Draigen niemals etwas antun. Ich möchte nicht, daß sie stirbt. Ich möchte, daß sie lebt - und daß sie jede Minute ihres Lebens leidet.«

»Erzählt mir, was damals passiert ist.«

»Draigen war zu jener Zeit fünfzehn Jahre alt. Ich war etwa Mitte dreißig und lebte schon als Nonne unter Äbtissin Marga in dieser Abtei. Meine Mutter, Suanach, war keine Christin. Sie zog es vor, den alten Gottheiten unserer Heimat die Treue zu halten. Sie war eine weise Frau. Sie kannte sämtliche Blumen und Kräuter, ihre Namen und ihre heilenden Kräfte. Sie war eins mit den Wäldern, in denen sie ihr Leben lang wohnte.«

»Und Euer Vater?« warf Fidelma ein.

»Ich habe ihn nie gekannt. Ich kannte nur meine Mutter und ihre Liebe zu mir.«

»Erzählt weiter.«

»In der Nähe des Waldes, in dem Suanach wohnte, lebte ein oc-aire, ein Mann mit einem kleinen Stück Land, das jedoch nicht ausreichte, um ihn und seine Familie zu ernähren. Der Mann war Adnar Mhor, der Vater von Draigen.«

»Auch der Vater von Adnar, der in der Festung am anderen Ufer der Bucht wohnt?«

»Derselbe. Meine Mutter hat Draigen manchmal geholfen. Als Adnar, der Sohn, fortging, um in das Heer von Gulban, dem Falkenauge, einzutreten, wurde Adnar, der Vater, zusehends kränker. Suanach hatte Mitleid mit dem jungen Mädchen. Als dann der Vater starb, erbot sich meine Mutter, Draigen bei sich aufzunehmen. Bald darauf starb auch ihre Mutter, und Draigen zog ganz zu Suanach in den Wald.«

»Standet Ihr damals schon im Dienste dieser Abtei?«

Bronach nickte abwesend.

»Damals war Draigen etwa vierzehn, wie man Euch vielleicht erzählt hat. Welch ein Jahr voller Unglück.«

Plötzlich traten Schwester Bronach Tränen in die Augen, und irgendwie hatte Fidelma das Gefühl, daß diese Tränen nicht nur um ihrer Mutter willen vergossen wurden.

»Was genau ist passiert?«

»Draigen ist eine eigensinnige Person und neigt zu Wutausbrüchen. Eines Tages hatte sie so einen Wutan-fall, packte ein Messer, das zum Häuten von Kaninchen benutzt wurde, und erstach meine Mutter Suanach.«

Fidelma wartete auf eine nähere Erklärung, und als keine kam, fragte sie danach.

»Seit dem Tod ihrer Eltern und seit ihr Bruder sie, wie sie es empfand, im Stich gelassen hatte, war Draigen sehr besitzergreifend geworden. Sie war aufbrausend und äußerst eifersüchtig, auch auf mich als Sua-nachs leibliche Tochter. Vielleicht war es gut, daß meine Pflichten in der Abtei mir nur wenig Zeit ließen, meine Mutter zu besuchen. Ich bin sicher, wir wären sonst häufiger und heftiger aneinandergeraten.«

»Ihr seid aneinandergeraten?«

»Unweigerlich. Jedes Mal, wenn ich zu meiner Mutter kam. Sobald Suanach mir aufmerksam zuhörte, kam Draigen und forderte doppelt soviel Aufmerksamkeit.«

»Also, zu dem Zeitpunkt, als Draigen Eure Mutter angriff ...? Was ist damals passiert?«

»Meine Mutter ...« Bronach zögerte, als fiele es ihr schwer, die richtigen Worte zu finden. »Meine Mutter hatte ein kleines Baby in Pflege genommen. Es war das Kind einer . einer Verwandten.«

Fidelma entgingen die verlegenen Pausen nicht.

»Suanach dachte, Draigen würde ihr bei der Erziehung des Kindes behilflich sein, aber Draigen war genauso eifersüchtig auf das Kind wie auf alles und jeden, mit dem sie die Zuneigung meiner Mutter teilen mußte.«

»Sie griff Eure Mutter an, weil sie dem Baby zuviel Aufmerksamkeit schenkte?« Fidelma spürte kalten Abscheu in sich aufsteigen.