»Ja, das ist allgemein bekannt. Aber das Befestigen des fé am linken Arm - warum nicht am rechten? Was hat das zu bedeuten? Ihr habt erwähnt, daß Ihr Drai-gen darauf aufmerksam gemacht habt, als der erste Leichnam gefunden wurde.«
»Man bindet den fé an den linken Arm, wenn ein Mörder oder Selbstmörder beerdigt wird ...« Sie unterbrach sich und schlug bestürzt eine Hand vor den Mund. »Die Zeile in Ogham ist normalerweise eine Anrufung der Todesgöttin.«
»Wie zum Beispiel Morrigan? Der Göttin des Todes und der Kriege?«
»Ja.« Die Antwort klang schneidend.
»Erzählt weiter«, sagte Fidelma ruhig.
»Ich kenne die Glaubensformel nicht wörtlich, aber sie beinhaltet die Anerkennung einer solchen Göttin. Bei der Leiche ohne Kopf ... der im Brunnen ... an ihrem linken Arm war ein Espenholzstab mit einer Og-haminschrift befestigt.«
»Bei Schwester Siomha auch«, bestätigte Fidelma.
»Was hat das zu bedeuten? Wollt Ihr etwa behaupten ...?«
»Ich behaupte gar nichts«, unterbrach Fidelma sie sogleich.
»Ich habe Euch lediglich gefragt, ob Ihr wißt, was der Gebrauch dieser Symbole bedeutet.«
»Natürlich weiß ich das.« Schwester Bronach schien jetzt gründlich nachzudenken. »Aber soll das heißen, daß die Tote im Brunnen eine Mörderin war?«
»Wenn dem so wäre, würde daraus folgen, daß man bei Schwester Siomha den gleichen Schluß ziehen müßte.«
»Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Vielleicht ergibt es Sinn für den Mörder. Sagt mir, Schwester Bronach, wer außer Euch weiß hier in der Abtei über diese Symbolik Bescheid?«
Die Pförtnerin zuckte die Achseln.
»Die Zeiten ändern sich, die alten Traditionen geraten in Vergessenheit. Ich bezweifle, daß eine der jüngeren Nonnen die Bedeutung dieser Dinge kennt.« Plötzlich weiteten sich ihre Augen. »Wollt Ihr damit vielleicht andeuten, daß ich die Täterin bin?«
Fidelma unternahm keinen Beschwichtigungsversuch.
»Durchaus möglich. Es ist meine Aufgabe, genau das herauszufinden. Wenn es um die Ermordung von Äbtissin Draigen ginge, hielte ich Euch für die Hauptverdächtige, denn Ihr hättet ein einleuchtendes Tatmotiv. Doch für die beiden Morde, mit denen wir es im Augenblick zu tun haben, sehe ich einfach kein Motiv bei Euch.«
Bronach betrachtete die Jüngere vorwurfsvoll.
»Ihr habt einen merkwürdigen Sinn für Humor, Schwester«, bemerkte sie mißbilligend. »Vielleicht gibt es hier auch noch andere, die sich mit den alten Traditionen genausogut auskennen wie ich.«
»Ihr habt bereits festgestellt, daß in dieser Abtei hauptsächlich junge Schwestern leben, die nicht darüber Bescheid wissen. Wer kennt denn dann noch den Gebrauch der alten Symbole?«
Schwester Bronach überlegte einen Augenblick.
»Schwester Comnat, unsere Bibliothekarin. Sonst niemand, außer .«
Sie hielt inne, und ihr Blick wurde plötzlich hart und hellwach.
Fidelma beobachtete sie aufmerksam.
»Außer .?« drängte sie.
»Niemand.«
»Oh, ich weiß, welcher Gedanke Euch gerade ge-kommen ist«, erwiderte Fidelma gelassen. »Ihr wart stolz auf die Kenntnisse der alten Traditionen, die Eure Mutter an Euch weitergegeben hat. An wen könnte sie dieses Wissen sonst noch weitergegeben haben? An jemanden, den sie aufzog? Kommt schon, der Name liegt Euch auf der Zunge.«
Schwester Bronach blickte zu Boden.
»Ihr wißt es bereits. Äbtissin Draigen natürlich. Sie weiß alles über die heidnische Symbolik, und .«
»Und?«
»Sie hat bereits bewiesen, daß sie fähig ist zu töten.«
Schwester Fidelma erhob sich und nickte ernst.
»Ihr seid schon die zweite, die mich in den letzten Stunden darauf hingewiesen hat.«
Kapitel 13
Schwester Lerben war in der Kapelle und polierte das große, reichverzierte goldene Kreuz, das auf dem Altar stand. Sie war eifrig über ihre Arbeit gebeugt und hatte ihr hübsches Gesicht vor Konzentration in Falten gelegt. Das dumpfe Geräusch der Tür, die hinter Fidelma ins Schloß fiel, ließ sie aufblicken. Sie richtete sich auf, während die ddlaigh den Gang zwischen den verlassenen Bankreihen heraufkam und vor ihr stehenblieb. Lerbens Miene verriet, daß ihr dieser Besuch nicht gerade willkommen war. Fidelma konnte deutlich das herausfordernde Funkeln und die Abneigung in ihren Augen sehen.
»Was wollt Ihr?«
Lerben sprach mit ihrer klaren, eiskalten, hellen Stimme. Anstelle von Ärger empfand Fidelma Mitleid mit ihr. Sie wirkte wie ein kleines Mädchen, verstockt und zornig - und schutzbedürftig. Ein kleines, wütendes Mädchen, das von einem Erwachsenen gerade bei etwas Verbotenem erwischt worden war. Ihre arrogante Maske war störrischer Streitsucht gewichen.
»Es gibt da ein paar Fragen, die ich Euch stellen muß«, antwortete Fidelma liebenswürdig.
Schwester Lerben schob das Kreuz in aller Ruhe zurück an seinen Platz und faltete sorgfältig das Stück Leinen zusammen, mit dem sie es poliert hatte. Fidelma war schon früher aufgefallen, daß die Bewegungen der Novizin überaus präzise und besonnen waren. Schließlich drehte sie sich um und stand mit verschränkten Armen da. Ihre Augen waren auf einen Punkt direkt hinter Fidelmas Schulter gerichtet.
Die ddlaigh deutete abgespannt auf eine der Bänke.
»Laßt uns einen Augenblick Platz nehmen und reden, Schwester Lerben.«
»Ist das ein offizielles Gespräch?« wollte Lerben wissen.
Fidelma antwortete gleichgültig.
»Offiziell? Wenn Ihr damit meint, ob ich in meiner Eigenschaft als ddlaigh der Gerichtsbarkeit mit Euch sprechen möchte, dann ist es offiziell. Aber die Dinge, die hier möglicherweise zur Sprache kommen, werden nicht schriftlich festgehalten.«
Schwester Lerben schien sich widerwillig in die Situation zu fügen und nahm Platz. Ihre Augen wichen Fidelmas prüfendem Blick aus.
»Seid versichert, daß nichts, was Ihr hier sagt, an Eure Äbtissin weitergeleitet wird.« Fidelma bemühte sich, dem Mädchen die Befangenheit zu nehmen, und fragte sich gleichzeitig, wie sie das Thema am besten ansprechen sollte. Sie setzte sich neben Lerben, die weiterhin schwieg. »Laßt uns den Streit vergessen, den wir hatten. Auch ich war stolz, als ich in Euerm Alter war. Auch ich dachte, ich wüßte über vieles Bescheid. Aber über das Kirchenrecht wart Ihr falsch informiert. Ich bin immerhin Advokatin der Gerichtsbarkeit, und wenn Ihr versucht, Eure Kenntnisse auf diesem Gebiet mit den meinen zu messen, zieht Ihr unweigerlich den kürzeren. Ich will damit nicht angeben, sondern lediglich eine Tatsache feststellen.«
Das Mädchen erwiderte noch immer nichts.
»Ich weiß, daß Äbtissin Draigen Eure Beraterin war.« Fidelma versuchte, sie durch diese Bemerkung aus der Reserve zu locken.
»Äbtissin Draigen verfügt über großes Wissen«, fauchte Lerben. »Warum sollte ich ihre Worte anzweifeln?«
»Ihr bewundert Äbtissin Draigen. Das verstehe ich gut. Aber mit ihren Kenntnissen der Gesetze ist es nicht weit her.«
»Sie setzt sich für unsere Rechte ein. Für die Rechte der Frauen«, konterte Schwester Lerben.
»Ist es denn nötig, sich für die Rechte der Frauen einzusetzen? Ist denn der Schutz der Frauen im iri-schen Gesetz nicht eindeutig verankert? Frauen werden vor Vergewaltigung geschützt, vor sexueller Belästigung und sogar vor Beleidigung. Vor dem Gesetz sind Frauen den Männern gleichgestellt.«
»Manchmal ist das nicht genug«, erwiderte das Mädchen ernsthaft. »Äbtissin Draigen erkennt die Schwächen in unserer Gesellschaft und kämpft für mehr Rechte.«
»Das verstehe ich nicht. Vielleicht seid Ihr so gut und erklärt es mir. Wenn die Äbtissin mehr Rechte für Frauen anstrebt, warum sagt sie dann, die Fénechus-Gesetze müßten verworfen und die neuen Kirchengesetze angenommen werden? Warum befürwortet sie die Bußvorschriften, deren weltanschauliche Grundlagen sich aus dem römischen Recht entwickelt haben? Dieses Recht verweist die Frau in eine untergeordnete Rolle.«