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Schwester Lerben war begierig, ihren Standpunkt zu erklären.

»Nach dem kanonischen Recht, das Draigen unterstützen möchte, wäre der Mord an einer Frau ein schlimmeres Verbrechen als der Mord an einem Mann. Leben für Leben. Im Augenblick schreiben die irischen Gesetze lediglich vor, daß eine Entschädigung gezahlt und der Mörder rehabilitiert werden muß. Dagegen verlangen die Gesetze, die die Kirche Roms vorschlägt, daß der Täter mit dem Leben zu bezahlen und zuvor körperliche Qualen zu erleiden hat. Die Äbtissin hat mir einige der Bußvorschriften gezeigt. Darin heißt es, einem Mann, der eine Frau tötet, werden Hände und Füße abgehackt und Schmerzen zugefügt, bevor er den Tod erleidet.«

Fidelma betrachtete den blutdürstigen Eifer des jungen Mädchens voller Abscheu.

»Und eine Frau wird für das gleiche Verbrechen bei lebendigem Leibe verbrannt«, gab Fidelma zu bedenken. »Ist es nicht besser, nach einer Entschädigung für das Opfer zu trachten anstatt Rache am Täter zu üben? Ist es nicht besser, zu versuchen, den Missetäter zu rehabilitieren und dem Opfer zu helfen, anstatt schmerzhaft Vergeltung zu üben, mit der man nichts weiter erreicht außer einen kurzen Moment der Genugtuung?«

Schwester Lerben schüttelte den Kopf und antwortete in leidenschaftlichem Tonfalclass="underline" »Draigen sagt, daß schon in der Bibel steht: >Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß .. .<«

»Diese Worte aus dem Zweiten Buch Mose werden häufig zitiert«, unterbrach Fidelma müde. »Man sollte sich lieber die Worte Christi anschauen, der sagt etwas ganz anderes. Seht Euch das Evangelium des heiligen Matthäus an, dort steht: >Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: >Auge um Auge, Zahn um Zahn.< Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den anderen auch dar.< So lautet das Wort des Gottes, dem wir folgen.«

»Aber Äbtissin Draigen hat gesagt .«

Fidelma hob die Hand, um das Mädchen zum Schweigen zu bringen.

»Kein Rechtssystem ist vollkommen. Es nützt jedoch wenig, gute Gesetze um schlechterer willen abzulehnen. In unserem Land werden den Frauen Rechte und Schutz gewährt. Es herrscht Gleichheit vor dem Gesetz. Die fremden Gesetze, die sich über die Bußvorschriften in unser Land einschleichen, haben zur Folge, daß sich nur noch die Reichen und Mächtigen Gerechtigkeit leisten können.«

»Aber Äbtissin Draigen ...«

»... ist keine Rechtsgelehrte«, unterbrach Fidelma sie entschlossen. Sie wollte sich wirklich nicht auf eine Debatte über die Vorzüge rivalisierender Rechtssysteme einlassen, schon gar nicht mit einem jungen Mädchen, das sein gesamtes Wissen den Erklärungen einer voreingenommenen Autorität verdankte. Sie wußte genau, wo Draigen hinsichtlich der Unterstützung der neuen Bußvorschriften stand, die nach Fidelmas Einschätzung drohten, die Gesetze der fünf Königreiche allmählich auszuhöhlen.

Schwester Lerben verfiel in verstocktes Schweigen.

»Ich weiß, daß Ihr die Äbtissin bewundert«, setzte Fidelma von neuem an. »Das ist auch die richtige und angemessene Einstellung gegenüber der eigenen Mutter.«

»Ihr wißt es also?« Abwehrend reckte Schwester Lerben ihr Kinn.

»Sicher ist eine Abtei kein geeigneter Ort, um ein solches Geheimnis zu wahren?« fragte Fidelma nachsichtig. »Außerdem gibt es kein Gesetz, weder in der irischen noch in der römischen Kirche, das Liebe und Heirat zwischen Glaubensbrüdern und -schwestern verbietet.«

Sie konnte sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Wer aber das neue Kirchenrecht unterstützt, verbietet die Liebe.«

Fidelma wußte, daß sich in Europa in den letzten zweihundert Jahren eine kleine Gruppe zusammengefunden hatte, die ihre Zweifel an der Vereinbarkeit von Ehe und religiösem Leben lautstark zum Ausdruck brachte. Hieronymus und Ambrosius waren die Wortführer all derer, die das Zölibat für einen Zustand höherer geistlicher Erleuchtung hielten als die Ehe, und Papst Damasus, ein Freund von Hieronymus, war der erste Papst gewesen, der für diese Idee Partei ergriffen hatte. Doch selbst in Rom gab es erst eine kleine, aber nichtsdestoweniger einflußreiche Gruppe, die sich dafür einsetzte, alle Geistlichen zum Zölibat zu verpflichten, und die deshalb die schriftliche Niederlegung der Bußvorschriften vorantrieb. Erfreulicherweise fand diese Idee im römischen Kirchenrecht bisher noch keinen Rückhalt.

Schwester Lerben saß ausdruckslos da.

»Seit wann lebt Ihr in dieser Gemeinschaft, Lerben? Ich nehme an, seit Eurer Geburt?«

»Nein. Mit sieben Jahren wurde ich zu Pflegeeltern geschickt.«

In den fünf Königreichen war es unter den Wohlhabenden Brauch, ihre Kinder im Alter von sieben Jahren zu Pflegeeltern zu geben oder sie von einem Lehrer erziehen zu lassen. Jungen blieben bis zum siebzehnten Lebensjahr bei den Pflegefamilien, Mädchen bis zum vierzehnten.

»Und Ihr seid hierher zurückgekehrt, als Ihr vierzehn wart?« fragte Fidelma.

»Vor drei Jahren«, bestätigte das Mädchen.

»Habt Ihr nie daran gedacht, woanders hinzugehen als in die Abtei Eurer Mutter?«

»Nein, warum sollte ich? Nachdem ich fortgegangen war, hat sich hier vieles verändert. Meine Mutter hat alle Männer ausgeschlossen.«

»Verabscheut Ihr Männer so sehr?« fragte Fidelma überrascht.

»Ja!« Das Wort kam spontan und leidenschaftlich.

»Warum?«

»Männer sind schmutzige, ekelhafte Tiere.«

Angesichts des Ungestüms in ihrer Stimme fragte sich Fidelma, welch schreckliche Erfahrungen das Mädchen wohl so geprägt haben mochten.

»Ohne Männer würde die menschliche Rasse aussterben«, gab sie vorsichtig zu bedenken. »Euer Vater war ein Mann.«

»Dann laßt sie doch aussterben!« entgegnete Lerben unversöhnlich. »Mein Vater war ein Schwein.«

Der abgrundtiefe Haß, der ihr ins Gesicht geschrieben stand, erschreckte Fidelma zutiefst.

»Ich vermute, Ihr sprecht von Febal?«

»Ja.«

Allmählich nahm eine Idee in Fidelmas Kopf Gestalt an.

»Also war es Euer Vater, der Eure Einstellung zu Männern so negativ beeinflußt hat?« »Mein Vater ... ein rotglühender Stein in seinen Hals! Möge er ersticken!«

Die Verwünschungen waren mehr als gehässig.

»Was hat Euer Vater Euch angetan, daß Ihr ihn so haßt?«

»Es geht darum, was er meiner Mutter angetan hat. Ich möchte nicht über ihn sprechen.«

Schwester Lerbens Gesicht war kreidebleich, und ein Schauder durchlief ihre schlanke Gestalt, ein Schauder des Ekels. Fidelma begriff allmählich, daß ein schwerer Konflikt das Mädchen belastete.

»Also habt Ihr hier Trost gefunden?« sprach sie hastig weiter. »Habt Ihr mit einer der anderen Schwestern Freundschaft geschlossen?«

Das Mädchen zuckte gleichgültig die Achseln.

»Mit einigen.«

»Aber nicht mit Schwester Berrach?«

Lerben zuckte zusammen.

»Dieser Krüppel! Sie wäre besser gleich bei der Geburt gestorben.«

»Und Schwester Bronach?«

»Eine dumme, alte Frau. Ständig streicht sie um diese schwachsinnige Berrach herum! Die hat doch ihre besten Jahre längst hinter sich.«

»Was ist dann mit Schwester Siomha, der Verwalterin? Wart Ihr mit ihr befreundet?«

Schwester Lerben verzog das Gesicht.

»Die kam sich vielleicht wichtig vor. Sie war schmutzig und widerlich!«

»Warum? Warum schmutzig und widerlich, Ler-ben?« fragte Fidelma und musterte das errötete Gesicht der jungen Frau.

»Sie mochte Männer. Sie hatte einen Liebhaber.«

»Einen Liebhaber, Wißt Ihr, wer es war?«

»Ich denke, das liegt auf der Hand. In den letzten Wochen habe ich oft gesehen, wie sie - wenn sie nachts nicht bei der Klepsydra Dienst tat - erst kurz vor Morgengrauen aus Adnars Festung zurückkehrte. Schwester Siomha pflegte sich nicht zu Liebschaften mit gemeinen Kriegern oder Bediensteten herabzulassen. Ihr müßt also nicht lange suchen, um herauszufinden, mit wem sie sich dem Laster hingegeben hat.«