»Meint Ihr Euern Onkel Adnar?«
»Ich nenne ihn nicht Onkel. Schwester Siomha war so von sich eingenommen. Sie wollte allen vorschreiben, was sie zu tun haben.«
»Immerhin war sie die rechtaire der Abtei«, gab Fidelma zu bedenken. »Habt Ihr mit Eurer Mutter über diese Sache gesprochen?«
Schwester Lerben reckte herausfordernd das Kinn.
»Nein. Und jetzt bin ich rechtaire.«
»Mit siebzehn?« Fidelma lächelte nachsichtig. »Ihr habt noch viel über das Leben als Nonne zu lernen, bevor Ihr ein solches Amt ernsthaft anstreben könnt.«
»Draigen hat mich zur rechtaire ernannt. Und damit basta.«
Fidelma beschloß, sich darüber nicht weiter zu streiten. Es gab wichtigere Dinge.
»Wie gut kennt Ihr Schwester Comnat und Schwester Almu?«
Lerben zuckte zusammen. Daß Fidelma von einem Thema zum anderen wechselte, schien sie aus der Fassung zu bringen.
»Ich kannte sie, Ja.«
»Kannte? Ist denn Comnat nicht mehr Bibliothekarin und Almu ihre Gehilfin?«
»Sie sind nach Ard Fhearta aufgebrochen und nun schon seit einigen Wochen fort. Es ist ganz normal, von ihnen zu sprechen, als wären sie nicht da.«
»Wie gut kanntet Ihr sie?« verbesserte sich Fidelma.
»Comnat habe ich nur während der Gottesdienste gesehen. Eine alte Frau. Älter als Bronach.«
»Ihr hattet nicht viel mit ihr zu tun?«
»Sie verbrachte die meiste Zeit in der Bibliothek und den Rest in der Abgeschiedenheit ihrer Zelle, im Gebet.«
»Interessiert Ihr Euch denn nicht für Bücher?«
»Ich kann nicht richtig lesen und schreiben. Drai-gen unterrichtet mich noch.«
Fidelma war schockiert.
»Ich dachte, man hätte Euch zur Ausbildung fortgeschickt?«
»Mein Vater hat das arrangiert. Ich wurde zu einem versoffenen Bauern gebracht. Zehn Meilen östlich von hier liegt eine Stadt, Eadar Ghabhal. Ich wurde dorthin geschickt, um als Bedienstete zu arbeiten. Es erging mir nicht besser als einer Sklavin.«
»Und man hat Euch weder Lesen noch Schreiben beigebracht?«
»Nein.«
»Wußten denn Euer Vater oder Eure Mutter, was das für ein Ort war, an den man Euch geschickt hatte?«
»Mein Vater wußte ganz genau Bescheid, deshalb hat er das Ja arrangiert. Es war das letzte Mal, daß meine Mutter ihm gestattet hat, sich in unser Leben einzumischen. Er kam häufig und besuchte den Bauern.« Lerbens Stimme verriet ihre lange angestaute Wut. »Dort habe ich gelernt, was Männer für Schweine sind. Der Bauer ... er hat mich vergewaltigt. Schließlich ist es mir gelungen, von diesem verruchten Ort zu fliehen. Meine Mutter erfuhr von all dem erst, nachdem ich in die Abtei zurückgekehrt war. Mein Vater hatte ihr die Wahrheit verschwiegen. Das war seine Rache an ihr. Dann kam der Bauer hier betrunken an, zusammen mit Febal. Sie versuchten, mich zur Rückkehr zu bewegen, und gaben vor, ich hätte den Bauern bestohlen und den Vertrag, den mein Vater ausgehandelt hatte, gebrochen. Draigen hat mich beschützt, sie hat mir hier Zuflucht gewährt und die beiden davongejagt.«
»Und was wurde aus dem Bauern?«
»Er kam ums Leben, als sein Hof niederbrannte.«
Fidelma musterte prüfend die Miene des Mädchens, doch sie verriet nichts. Sie war beinahe so ausdruckslos, als hätte Lerben jedes Gefühl daraus verbannt.
»Habt Ihr Euern Vater seitdem gesehen?«
»Nur noch von weitem. Meine Mutter sagte ihm zur Warnung, daß er seines Lebens nicht mehr sicher sei, falls er noch einmal versuchen sollte, mir ein Leid anzutun.«
Fidelma saß einen Augenblick schweigend da und ließ sich das Gehörte durch den Kopf gehen.
»Ihr sagt, Draigen unterrichtet Euch seit Eurer Rückkehr in die Abtei im Lesen und Schreiben?«
»Wenn sie Zeit hat.«
»Was ist mit Schwester Almu? Sie ist jung, sicher kaum älter als Ihr? Sie ist eine gelehrige Schülerin und hätte Euch doch Lesen und Schreiben beibringen können?«
Fidelma entging nicht, daß das Mädchen zögerte.
»Ich verstehe mich nicht so gut mit Almu. Sie ist ungefähr ein Jahr älter als ich, und Schwester Siomha war ihre Freundin.«
»Ist Almu hübsch?«
»Das kommt darauf an, was man unter >hübsch< versteht.«
Das war zugegebenermaßen eine schlagfertige Erwiderung.
»Mögt Ihr sie?«
»Ich kenne sie nicht sehr gut. Sie arbeitet ebenfalls in der Bibliothek und schreibt dort verstaubte alte Bücher ab. Warum stellt Ihr mir all diese Fragen?«
»Ach, nur, um mir ein genaueres Bild machen zu können.« Fidelma erhob sich. »Das war’s auch schon.«
»Dann werde ich, sobald Ihr geht, zu meinen Pflichten zurückkehren.«
Fidelma antwortete mit einer vagen Geste der Zustimmung und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Dort blieb sie stehen und warf einen Blick zurück, als sei ihr nachträglich noch etwas eingefallen.
»Warum habt Ihr gesagt, daß Schwester Bronach ihre besten Jahre hinter sich hat?« fragte sie mit schneidender Stimme. »Was habt Ihr damit gemeint?«
Schwester Lerben, die sich nun wieder dem Polieren der goldenen Ikonen und Statuen in der Kapelle widmete, sah auf. Einen Augenblick schien es, als hätte sie Fidelma nicht verstanden, doch dann erhellte sich ihr Gesichtsausdruck.
»Sie ist alt. Draigen sagt, sie hat ihren Mann und ihr Kind gehabt und hat jetzt nichts mehr vom Leben zu erwarten. Draigen sagt ...«
Fidelma war bereits nachdenklich hinausgegangen.
Sie war noch immer tief in Gedanken versunken, als Adnars Bootsmann im Gästehaus der Abtei melden ließ, er sei gekommen, um sie zur Festung des bo-aire hinüberzurudern. Es war schon dunkel, doch am Boot waren vorn und achtern Laternen angebracht, und zwei Mann legten sich in die Riemen, so daß das Fahrzeug durch das schwarze Wasser schnitt und, so schien es zumindest, in wenigen Minuten übersetzte. Fidelma wurde auf den dunklen Kai hinaufgereicht, und der Bootsmann, der eine der Lampen trug, leuchtete ihr die Stufen hinauf und in die Festung hinein.
Im Inneren der Granitmauern war Dun Boi hell erleuchtet, überall brannten Fackeln, und aus den Hauptgebäuden drang Musik herüber. Hier und dort gingen Wachen auf und ab, doch ansonsten wirkte die Zitadelle recht friedlich.
Adnar eilte die Treppe herunter und streckte Fidelma zur Begrüßung die Hände entgegen.
»Willkommen, Schwester Fidelma. Willkommen. Ich freue mich, daß Ihr gekommen seid.«
Er ging voraus, die hölzernen Stufen hinauf und in den großen Festsaal, wo sie tags zuvor das Morgenmahl eingenommen hatten. Die Einrichtung hatte sich nicht verändert, aber der riesige Tisch war mit Bergen von Speisen überladen, und im Kamin loderte ein gewaltiges Feuer, von dem eine ungeheure Hitze ausging. In einer Ecke spielte jemand leise auf einer Harfe.
Adnar half ihr höchstpersönlich, den Umhang abzulegen, und geleitete sie zu dem runden Tisch. Dort bückte sich ein Diener, um ihr die Schuhe auszuziehen. Sowohl in weltlichen als auch in kirchlichen Kreisen war es Brauch, Schuhe oder Sandalen abzulegen, bevor man sich zum Abendessen niedersetzte.
Olcan und Torcan waren ebenfalls anwesend. Die beiden jungen Männer begrüßten sie so überschwenglich und wortgewandt, daß es den Anschein hatte, als versuchten sie sich in puncto »gute Manieren« gegenseitig auszustechen. Nur Bruder Febal stand wortlos da und senkte den Blick. Sein Benehmen war fast schon unhöflich. Fidelma bemühte sich, ihre Abneigung gegen ihn nicht zu zeigen. Sie mußte für alles offen sein. Doch wenn Schwester Lerbens Behauptungen stimmten, war er ein verbitterter und böser Mensch.