Es war Olcan, der das Gespräch eröffnete.
»Wie geht Eure Untersuchung voran? Ich habe gehört, daß Ihr unseren Bruder Febal vernommen habt? Ist er denn nun der gefürchtete Frauenmörder?«
Bruder Febal schien seinen Humor nicht zu teilen.
Fidelma antwortete ernst.
»Wir werden warten müssen, bis die Untersuchung abgeschlossen ist, bevor wir uns ein Urteil erlauben können.«
Adnar hob die Augenbrauen in gespielter Überraschung.
»Möge der Himmel auf uns herabstürzen! Ich glaube, sie verdächtigt Euch tatsächlich, Febal.«
Bruder Febal zuckte die Achseln. Sein anziehendes Gesicht wirkte sanft.
»Ich habe die Wahrheit nicht zu fürchten.«
Ein Grinsen huschte über Olcans bläßliche Züge, und er deutete auf den Tisch.
»Nun, ich fürchte, ich verhungere, wenn wir das Mahl nicht bald beginnen. Schwester Fidelma, würdet Ihr uns die Ehre erweisen und das Gratias sprechen, wie es hier Brauch ist?«
Fidelma neigte den Kopf.
»Benedic nobis, Domine Dem, et omnibus donis Tuis quae ex largitate ...«
Nach dem Gebet setzten sie sich zu Tisch. Nun traten Diener heran, um den Wein einzuschenken und die Platten herumzureichen. Überrascht stellte Fidelma fest, daß Adnar nicht nur für jeden ein Messer hatte bereitlegen lassen - man aß mit einem Messer in der rechten Hand und benutzte links nur die Finger -, sondern daß jeder Tischgast auch eine saubere Umhbrat oder Serviette bekam, die normalerweise während des Essens über die Knie gebreitet und nach Beendigung der Mahlzeit zum Abwischen der Hände benutzt wurde. Im allgemeinen begegnete man solcher Kultiviertheit sonst nur bei Königen und Bischöfen. Adnar war offensichtlich daran gelegen, mit der vornehmen, festlich gedeckten Tafel seine gesellschaftliche Stellung hervorzuheben.
»Bitte fangt an, Fidelma. Möchtet Ihr lieber Wein oder Met?«
Silberne Pokale waren mit Rotwein aus fernen Ländern gefüllt, aber es standen auch Krüge mit heimischem Met auf dem Tisch. Sie sah, daß Bruder Fe-bal diesen dem Wein vorzog. Es gab Ochsenfleisch, Hammel und Wild, außerdem Fisch, Gänseeier und sogar eine Speise aus ron oder Robbenfleisch. Diese war früher sehr beliebt gewesen, wurde heutzutage jedoch kaum noch gegessen. Einer Überlieferung zufolge hatte einst ein Druide im Westen des Landes eine Familie in Robben verwandelt, und nun mochte niemand mehr Robbenfleisch essen, um nicht die eigenen Artgenossen zu verspeisen.
Fidelma nahm etwas von dem Wild, das mit wildwachsendem Knoblauch zubereitet war, dazu Gerstenfladen und Pastinaken.
»Ernsthaft«, ergriff Adnar das Wort, »wie geht Eure Untersuchung voran? Habt Ihr die Identität der Toten ohne Kopf inzwischen festgestellt?«
»Nicht mit Sicherheit«, erwiderte Fidelma und nippte an ihrem Wein.
Torcans Blick war durchdringend.
»Heißt das, Ihr habt eine Vermutung, um wen es sich handeln könnte?«
Fidelma gab vor, daß ihr Mund zu voll war, um sofort zu antworten.
»Nun, ich für mein Teil weiß, wer es getan hat«, murmelte Bruder Febal.
Der bleichgesichtige Olcan deutete mit dem Messer auf Febal.
»Das habt Ihr Schwester Fidelma gegenüber bereits klargestellt. Sicher hat Äbtissin Draigen nicht gerade Eure Zuneigung geweckt.«
»Sie weckt sie aber in ihrer Tochter«, bemerkte Fidelma leise.
Bruder Febal verstand die Veränderung ihrer Tonlage sofort.
»Ihr habt also mit Lerben gesprochen?« Er schien keineswegs beunruhigt. »Nun, sie ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ihre Mutter. Lügnerinnen, alle beide!«
»Ist sie nicht auch aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ihr Vater?« fragte Fidelma mit Unschuldsmiene.
Bruder Febal wollte gerade etwas entgegnen, schien sich jedoch eines Besseren zu besinnen. Er versuchte, Fidelmas Gesichtsausdruck zu deuten.
»Falls sie mich beschuldigt hat ...« hob er an, und sein Gesicht wurde zornesrot.
»Wessen könnte sie Euch beschuldigen?«
Bruder Febal schüttelte abwehrend den Kopf.
»Nichts. Nichts. Das Mädchen ist einfach eine zwanghafte Lügnerin. Das ist alles.«
»Und Ihr wollt immer noch behaupten, daß ihre Mutter sich mehr für Frauen interessiert als für Männer? Wollt Ihr diese Beschuldigung aufrechterhalten? Und die Beschuldigung, daß Mutter und Tochter eine widernatürliche Beziehung unterhalten?«
»Habe ich das nicht gesagt?«
»In der Abtei teilt sonst niemand Eure Ansicht. Nicht einmal Schwester Bronach, die Ihr als Eure Zeugin angegeben habt.«
»Niemand in der Abtei hat den Mut, sich gegen Draigen zu stellen, am allerwenigsten Bronach, diese selbsternannte Märtyrerin!«
Fidelma bemerkte, daß Torcan Bruder Febal mit neugieriger Miene musterte. Es war wieder einmal Ol-can, der die Spannung auflöste, die in dem Gespräch plötzlich entstanden war.
»Nach allem, was ich so höre, glaube ich persönlich, daß es sich bei dem Mörder um einen Wahnsinnigen handelt. Es gibt so viele Geschichten über seltsame Gebirgsbewohner, die Leute überfallen und ermorden. Welcher normale Mensch würde denn einem Leichnam den Kopf abschneiden?«
»Dann müßt Ihr auch der Ansicht sein, daß unsere Vorfahren wahnsinnig waren.« Torcans Tonfall war ernst, doch er lächelte, während er sprach. »Vor vielen, vielen Jahren war es nämlich weit verbreitet, einen getöteten Feind zu enthaupten.«
»Ich habe von diesem alten Brauch gehört«, bemerkte Fidelma. »Wißt Ihr mehr darüber?«
Der Sohn des Prinzen der Ui Fidgenti wählte sich mit dem Messer noch ein Stück Fleisch aus und antwortete mit einem Kopfnicken.
»Früher war das unter Kriegern allgemein üblich. Nach einer Schlacht schnitten die tapfersten Krieger den getöteten Feinden die Köpfe ab, hängten sie an ihre Streitwagen und fuhren im Triumphzug zurück zu ihren Festungen. Hat nicht der große Held Conall Cearnach gelobt, niemals ohne den Kopf eines Feindes unter seinem Knie schlafen zu gehen?«
»Warum sollten sie das tun?« wollte Olcan wissen. »Den Kopf ihrer Feinde abschneiden? Es war doch sicher schon schwierig genug, im Kampf zu überleben, auch ohne mit solch sinnlosen Dingen die Zeit zu vergeuden.«
Hierauf wußte Fidelma eine Antwort.
»In alten Zeiten, bevor das Christentum bei uns Einzug hielt, glaubte man, die Seele des Menschen sei im Kopf zu finden. Der Kopf galt als Sitz des Verstandes und der Vernunft. Was sonst konnte solche Gedanken hervorbringen, wenn nicht die Seele? Wenn der Körper starb, blieb die Seele dort, bis sie in die Anderswelt gelangte. Habe ich nicht recht, Bruder Febal?«
Bruder Febal zuckte zusammen, als sie ihn in so freundlichem Ton ansprach, und nickte widerwillig.
»Das glaubte man früher, soviel ich weiß. Bis vor kurzem galt es noch als Zeichen der Achtung und Zuneigung, wenn man jemandem bei der Begrüßung den Kopf in den Schoß legte.«
»Aber warum schnitten die Krieger ihren Feinden den Kopf ab?« wollte Olcan wissen.
»Das war so«, erklärte Torcan: »Unter den Kriegern herrschte früher die Überzeugung, daß sie sich durch das Abschneiden des Kopfes der Seele ihres Feindes bemächtigen konnten. War der Feind ein großer Kämpfer und siegreicher Held, dann - so glaubten sie - würde dadurch etwas von seiner Größe auf sie übergehen.«
»Eine primitive Vorstellung«, murmelte Olcan.
»Vielleicht«, räumte Torcan ein. »Anstatt all die Geschichten über die Heiligen und das Christentum zu lesen, solltet Ihr Euch besser die Erzählungen über unsere alten Helden anhören, zum Beispiel über Cu-chullain, der mit seinem Streitwagen, mit Hunderten von Köpfen geschmückt, in Dun Dealg einfuhr.«
Adnar ermahnte seine Gäste.
»In Anwesenheit einer Frau ist das wohl kaum eine passende Unterhaltung.«