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»Seid Ihr sicher, daß niemand an Bord ist?« fragte sie mit einem Anflug von Ungläubigkeit in der Stimme.

Ross nickte.

»Meine Männer haben überall nachgesehen, Schwester. Welche Erklärung gibt es für dieses Rätsel?«

»Ich habe nicht genügend Informationen, um das auch nur erraten zu können, mein Freund«, erwiderte Fidelma und musterte weiterhin prüfend das saubere, gepflegte Erscheinungsbild des Schiffes. Sogar die Taue waren ordentlich aufgerollt. »Gibt es denn gar kein Durcheinander an Bord? Kein Anzeichen dafür, daß das Schiff gezwungenermaßer verlassen wurde?«

»Mittschiffs ist sogar noch ein Rettungsboot befestigt«, erwiderte Ross kopfschüttelnd. »Gleich, als ich das Schiff erblickte, fiel mir auf, daß es hoch aus dem Wasser ragte und nichts darauf hindeutete, daß es zu sinken drohte. Soweit ich feststellen kann, hat es nirgendwo ein Leck. Nein, es gibt keinen Hinweis darauf, daß es verlassen wurde, weil man befürchtete, es könne sinken. Die Segel waren alle ordnungsgemäß gehißt, vom Topsegel einmal abgesehen. Was mag bloß mit der Besatzung geschehen sein?«

»Was ist mit dem Topsegel?« fragte Fidelma. »Es war nicht richtig befestigt und hätte von einem heftigen Windstoß abgerissen werden können.«

»Noch lange kein Grund, ein Schiff zu verlassen«, erwiderte Ross.

Fidelma spähte hinauf zu dem Mast, an dem das Topsegel jetzt festgezurrt war. Sie runzelte die Stirn und rief Odar, der die Segel gerefft hatte.

»Was ist das da oben für ein Stück Stoff, dort in der Takelage, ungefähr sieben Meter über uns?« fragte sie.

Odar warf Ross einen raschen Blick zu, bevor er antwortete.

»Ich weiß es nicht, Schwester. Wünscht Ihr, daß ich es hole?«

Es war Ross, der ihn an ihrer Stelle anwies, nach oben zu steigen.

Mit geübter Leichtfüßigkeit kletterte Odar die Takelage hinauf und war einen Augenblick später bereits wieder unten, ein zerrissenes Stück Stoff in der Hand.

»Es ist an einem Nagel im Mast hängengeblieben, Schwester«, erklärte er.

Fidelma sah, daß es sich um ein Stück einfaches Leinen handelte, einen Stoffetzen, der von einem Hemd stammen könnte. Sie interessierte vor allem die Tatsache, daß er stellenweise voller Blut war und daß es sich um relativ frische Blutflecken handelte, noch nicht völlig braun und eingetrocknet, sondern von deutlich erkennbarem Rot.

Fidelma blickte einen Augenblick gedankenvoll nach oben, trat unter die Takelage und spähte zu dem eingerollten Topsegel hinauf. Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf die Reling - auf einen verschmierten Abdruck getrockneten Blutes, der deutlich eine Handfläche erkennen ließ. Nachdenklich starrte sie darauf. Wer auch immer diesen Abdruck hinterlassen hatte, mußte die Reling von der Seeseite her umklammert haben. Sie seufzte leise und steckte das abgerissene Stück Leinen in ihr marsupium, den großen Beutel, den sie stets an ihrem Gürtel trug.

»Bringt mich in die Kapitänskajüte«, bat Fidelma, als ihr klar wurde, daß es auf Deck nichts Neues mehr herauszufinden gab.

Ross wandte sich zum Heck des Schiffes, zur Hauptkajüte unterhalb des erhöhten Achterdecks. Eigentlich gab es dort zwei Kajüten. Beide wirkten ordentlich aufgeräumt, die Kojen waren gemacht, und in einer der Kajüten war der Tisch gedeckt. Teller und Tassen waren allerdings ein wenig durcheinandergeraten, und Ross, der Fidelmas fragenden Blick bemerkte, erklärte, die Ursache hierfür sei wahrscheinlich das unberechenbare Schwanken des Schiffes, als es ohne Steuermann vor dem Wind schwoite.

»Es ist ein Wunder, daß es bisher noch nicht an den Felsen zerschellt ist«, fügte er hinzu. »Gott weiß, wie lange es schon ohne steuernde Hand über die Meere treibt. Und es fährt unter vollen Segeln, so daß ein heftiger Windstoß genügt, wenn niemand da ist, die Segel zu bergen oder zu reffen.«

Nachdenklich preßte Fidelma die Lippen aufeinander.

»Man hat fast den Eindruck, als sei die Besatzung einfach verschwunden«, fuhr Ross fort. »Als hätte man sie weggezaubert .«

Fidelma hob zynisch eine Augenbraue.

»Solche Dinge passieren nicht in der wirklichen Welt, Ross. Es gibt für alles eine logische Erklärung. Zeigt mir den Rest des Schiffes.«

Ross führte sie hinaus.

Unter Deck wich der frische, scharfe Salzgeruch des Meeres dem drückenden Gestank, der sich entwickelt, wenn Männer jahrelang auf engstem Raum zusammenleben. Der Abstand zwischen den Decks war so gering, daß Fidelma sich bücken mußte, um sich den Kopf nicht an den Balken zu stoßen. Kein noch so intensives Schrubben mit Salzwasser konnte den schalen Schweißgeruch und den bittersüßen Uringestank beseitigen, der sich in den Aufenthaltsräumen der Besatzung festgesetzt hatte. Das einzig Positive war, daß es dort unten wärmer war als oben auf dem kalten, zugigen Deck.

Dennoch wirkten die Mannschaftsquartiere recht reinlich, wenn auch nicht ganz so gepflegt wie die Kajüten, die vermutlich den Offizieren vorbehalten wa-ren. Es gab jedoch auch hier keinerlei Anzeichen von Unordnung oder hastigem Aufbruch. Die Ausrüstung war fein säuberlich verstaut.

Anschließend führte Ross sie in den großen Laderaum des Schiffes. Dort stach Fidelma ein anderer Geruch in die Nase - nach dem muffigen, beißenden Gestank in den Mannschaftsquartieren ein neuer Sinnesreiz. Fidelma hielt inne, runzelte die Stirn und versuchte, den Duft, der in ihre Nasenlöcher drang, einzuordnen: eine Mischung aus verschiedenen Gewürzen, vor allem aber der Geruch von abgestandenem Wein. Suchend schaute sie sich im Dämmerlicht des Laderaums um. Er schien leer zu sein.

Ross hantierte mit Feuerstein und Zunder und zündete eine Öllampe an, damit sie den Innenraum besser sehen konnten. Er seufzte leise.

»Wie ich bereits sagte, das Schiff ragte hoch aus dem Wasser heraus, wodurch es bei einem Unwetter doppelt anfällig ist. Ich dachte mir schon, daß der Laderaum leer sein muß.«

»Warum hatten sie keine Ladung an Bord?« fragte Fidelma, während sie sich umsah.

Ross war sichtlich ratlos.

»Ich habe keine Ahnung, Schwester.«

»Das Handelsschiff kommt aus Gallien, sagtet Ihr?«

Der Seemann nickte.

»Könnte das Schiff ohne Ladung von Gallien losgesegelt sein?«

»Ah«. Ross verstand sofort, worauf sie hinauswoll-te. »Nein, es wäre sicher nur mit Ladung losgefahren. Und genauso wahrscheinlich hätte es eine Ladung aus einem irischen Hafen auf die Rückreise mitgenommen.«

»Also haben wir keine Ahnung, wann die Besatzung es verlassen hat? Es könnte auf dem Weg nach Irland oder auf dem Rückweg nach Gallien gewesen sein? Und es könnte auch sein, daß die Besatzung die Ladung mitnahm, als sie das Schiff verließ?«

Ross kratzte sich nachdenklich die Nase.

»Das sind gute Fragen. Allerdings haben wir keine Antworten darauf.«

Fidelma betrat den leeren Laderaum und begann im Dämmerlicht mit ihrer Untersuchung.

»Was hat ein Schiff wie dieses normalerweise geladen?«

»Wein, Gewürze und andere Waren, die in unserem Land nicht so leicht zu finden sind, Schwester. Seht her, hier sind Regale für die Weinfässer, aber sie sind alle leer.«

Ihr Blick folgte seiner ausgestreckten Hand. Neben den leeren Regalen türmte sich allerlei Gerümpel am Boden, darunter abgesplittertes Holz und ein mit Eisen beschlagenes Wagenrad mit einer gebrochenen Speiche. Und noch etwas lag dort, was sie verwundert betrachtete. Es ähnelte einem großen Holzzylinder, der fest mit einer groben, dicken Schnur umwickelt war. Der Zylinder war gut einen halben Meter lang und hatte einen Durchmesser von etwa fünfzehn Zentimetern. Sie bückte sich und berührte die Schnur, und ihre Augen weiteten sich erstaunt. Die Schnur bestand aus einem Strang tierischer Gedärme.

»Was ist das, Ross?« fragte sie.