»Offensichtlich ein guter Tausch«, bemerkte sie lächelnd. »Besonders, wenn alle Weine so gut sind wie dieser.«
Adnar wendete weitere Fragen ab, indem er ihr mehr Wein anbot.
»Wie geht es Euerm Bruder, unserem König?« wollte Torcan unvermittelt wissen.
Sofort spürte Fidelma erneute Anspannung am Tisch. Sie war augenblicklich auf der Hut und fragte sich, ob die Geschichten stimmten, die Ross aufgeschnappt hatte. Die ganze Zeit hatte sie überlegt, wie sie das Thema anschneiden könnte, ohne Verdacht zu erregen. Sie mußte vorsichtig sein.
»Meinem Bruder Colgu? Ich habe ihn seit seiner Amtseinsetzung in Ros Ailithir nicht mehr gesehen.«
»Ach Ja. Mein Vater war dabei«, erwiderte Olcan und nahm sich einen Apfel.
»Meiner auch«, fügte Torcan eiskalt hinzu. »Wie ich höre, hat Colgu großartige Pläne für Muman.«
Fidelma tat die Bemerkung ab.
»Ich habe meinen Bruder nur das eine Mal gesehen, seit er König von Cashel wurde«, sagte sie. »Ich lebe in Kildare, im Kloster der Heiligen Erigida, und habe mich noch nie sonderlich für Muman interessiert.«
»Ach«, hauchte Torcan die Silbe wie einen leisen Atemzug.
Olcan wandte ihr einen mittlerweile etwas verschwommenen Blick zu.
»Aber Ihr wart in Ros Ailithir, als die Versammlung der Loigde die Ansprüche meines Vaters auf das Amt des Häuptlings zurückwies und statt dessen Bran Finn Mael Ochtraighe zum Häuptling ernannte?«
Fidelma nickte.
»Das hat meinen Vater sehr aufgeregt. Ihr kennt doch Bran Finn?«
Sie spürte aufkeimendes Unbehagen in der Runde.
»Wer kennt ihn nicht?« erwiderte sie. »Er ist ein berühmter Dichter und Krieger.«
»Mein Vater Gulban hält ihn für einen Thronräuber.«
»Olcan!« Torcan wandte sich mit einem mahnenden Blick an den Jüngling, der offenbar betrunken war.
»Ich hoffe, er wird sich als besserer Häuptling erweisen als Salbach«, entgegnete Fidelma.
Sie sah, daß Adnar Torcan einen warnenden Blick zuwarf und dabei verstohlen in Olcans Richtung nick-te, bevor er sich mit einschmeichelndem Lächeln Fidelma zuwandte.
»Das wird er bestimmt«, versicherte ihr der Häuptling von Dun Boi. »Er hat das Volk hinter sich, genau wie Euer Bruder Colgu. Nicht wahr, Torcan?«
»Ganz und gar nicht, wenn man meinem Vater Gulban glaubt«, murmelte Olcan.
»Achtet nicht auf ihn, Schwester Fidelma«, beschwichtigte Torcan. »Nach soviel Wein weiß er nicht mehr, was er redet.«
»Natürlich«, erwiderte Fidelma ernst, dachte dabei jedoch an das alte römische Sprichwort »in vino veritas«, im Wein liegt Wahrheit.
Torcan hob den Kopf.
»In der Tat, wir hoffen, bald in Cashel einzutreffen und dort höchstpersönlich unseren Treueid für Colgu abzulegen.«
Plötzlich spuckte Olcan in seinen Pokal, schüttete einen Teil des Inhalts über sich und begann heftig zu husten.
»Irgendwas . Irgendwas ist mir in die falsche Kehle geraten«, keuchte er und blickte verlegen in die Runde.
Torcan reichte ihm stirnrunzelnd ein Glas Wasser.
»Ihr habt für heute abend wohl genug getrunken«, tadelte er ihn streng.
Fidelma nutzte die Gelegenheit und erhob sich, da ihr bewußt wurde, wie spät es war.
»Es ist fast Mitternacht. Ich muß in die Abtei zurück.«
»Müßt Ihr wirklich schon gehen?« Torcan war die Höflichkeit in Person. »Adnar ist sehr stolz auf seine Musikanten, und wir haben ihren Darbietungen noch gar nicht lauschen können.«
»Vielen Dank, aber ich muß zurück.«
Adnar winkte einen Diener herbei und gab ihm flüsternd Anweisungen.
»Ich habe das Boot bestellt, das Euch hinüberbringt. Vielleicht kommt Ihr ein andermal und hört meinen Musikanten zu?«
»Gerne«, erwiderte Fidelma, während ein Bediensteter ihre Schuhe brachte und ihr in den Umhang half.
Als das Boot vom Anlegesteg von Dun Boi in die dunkle Nacht hinausfuhr, war Fidelma erleichtert, die düsteren, erdrückenden Mauern der Festung hinter sich zu lassen. Sie hatte das Gefühl, auf Messers Schneide gewandelt zu sein, zwischen Sicherheit und allergrößter Gefahr.
Kapitel 14
Das Echo des Gongs, der die Mitternacht verkündete, hallte laut und deutlich vom Turm der Abtei. Fidelma hatte ihren mit Biberpelz verbrämten, wollenen Umhang ganz um sich gewickelt und bewegte sich geräuschlos durch den Wald, der unter einem weißen Schleier lag. Leise knirschte der Neuschnee unter ihren Füßen, und ihr Atem schwebte wie Nebel vor ihr her, sobald er mit der kalten Luft in Berührung kam. Trotz der späten Stunde war die Nacht leuchtend hell, denn der Vollmond war zwischen den Wolken hervorgetreten und ließ die Schneedecke glitzern.
Fidelma war sicher, daß niemand sie gesehen hatte, als sie das Gästehaus und das Abteigelände geräuschlos Richtung Wald verließ. Gelegentlich blieb sie stehen und schaute zurück, aber in der Totenstille der Nacht regte sich nichts. Sie ging jetzt schneller, und ihr Atem kam stoßweise, denn in der kalten Luft kostete das Gehen mehr Anstrengung als sonst.
Erleichtert hörte sie weiter vorne das leise, muntere Wiehern von Pferden, und nach wenigen Minuten sah sie die Tiere sowie Ross und Odar, die ihre Zügel hielten.
»Gut gemacht, Ross!« begrüßte sie ihn atemlos.
»Ist alles in Ordnung, Schwester?« fragte der Seemann besorgt. »Hat Euch jemand beim Verlassen der Abtei gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Laßt uns unverzüglich losreiten. Ich glaube, wir haben heute nacht viel zu tun.«
Odar half ihr in den Sattel einer dunklen Stute, bevor er und Ross sich auf ihre Pferde schwangen. Ross ritt voraus, er wußte offensichtlich, welche Richtung sie einschlagen mußten. Fidelma folgte ihm, und Odar bildete die Nachhut.
»Woher habt Ihr die Pferde?« fragte Fidelma anerkennend, während sie den Waldweg entlangtrabten. Sie war eine ausgezeichnete Pferdekennerin.
»Odar hat sie beschafft.«
»Von einem einfachen Bauern nicht weit von hier. Einem Mann namens Barr«, ergänzte Odar mürrisch. »Sein Hof scheint zu florieren, seit ich das letzte Mal geschäftlich mit ihm zu tun hatte. Damals konnte er sich keine Pferde leisten. Ich habe die Tiere für eine Nacht bei ihm gemietet.«
»Barr?« Fidelma runzelte die Stirn. »Ich glaube, ich habe den Namen schon mal gehört. Egal. Ach Ja«, erinnerte sie sich plötzlich, »jetzt fällt’s mir wieder ein. Ist denn Barrs vermißte Tochter inzwischen wieder aufgetaucht?«
Odar blickte sie verwundert an.
»Tochter? Barr ist nicht einmal verheiratet, von Kindern ganz zu schweigen.«
Fidelma schürzte nachdenklich die Lippen, erwiderte jedoch nichts.
Plötzlich schauderte sie vor Kälte - trotz ihres Umhangs. Ein eisiger Wind strich wispernd um die schneebedeckten Ausläufer der hohen Berge.
Ross deutete nach oben.
»Unser Pfad führt dort entlang, direkt am Gipfel des Berges vorbei auf die andere Seite der Halbinsel. Dann fällt er steil zu der Ortschaft ab, in der das Kupfer gewonnen wird.«
Odar fügte hinzu: »Ich habe in meiner Satteltasche einen Schlauch mit cuirm dabei, der uns die winterliche Kälte vom Leib halten wird, Schwester. Möchtet Ihr einen Schluck?«
»Eine gute Idee, cuirm mitzubringen, Odar«, erwi-derte Fidelma beifällig. »Aber ich finde es besser, ihn für später aufzuheben, denn bald werden wir den Schutz des Waldes verlassen und die eiskalten Bergrücken überqueren müssen. Dann wird es noch kälter, und wir können einen kräftigenden Schluck gut gebrauchen.«
»In Euren Worten liegt große Weisheit«, stimmte Odar umständlich zu.
Sie ritten schweigend weiter und zogen die Köpfe ein, als der Wind allmählich auffrischte und ihnen feinen Pulverschnee ins Gesicht trieb. Im Westen ballten sich neue Schneewolken zusammen, und Fidelma war sich nicht sicher, ob sie deshalb dankbar oder verzweifelt sein sollte. Einerseits dankbar, weil die Wolken den hellen Mond verdecken würden, dessen Licht von der Schneedecke zurückgeworfen wurde und die Nacht fast taghell erleuchtete, so daß ihre Umrisse vor dem weißen Hintergrund selbst aus beträchtlicher Entfernung weithin sichtbar waren. Andererseits verzweifelt, weil die schweren Wolken noch mehr Schnee zu bringen drohten, so daß ihre Reise denkbar beschwerlich und gefährlich zu werden versprach.