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Nachdem sie etwa fünf Meilen zurückgelegt hatten, zeigte sich, wie klug es gewesen war, Fidelmas Rat zu befolgen und den cuirm, den Alkohol, den Odar mitgenommen hatte, aufzuheben, denn trotz ihrer warmen Umhänge froren sie erbärmlich. Das Gelände war felsig und voller Höhlen. Auf einer kleinen Lichtung brachte Fidelma ihr Pferd zum Stehen und schlug Odar vor, jetzt jedem von ihnen einen Schluck cuirm zu gönnen. Derart gestärkt ritten sie weiter. Nach etwa einer Meile gelangten sie auf verschlungenen Pfaden wieder abwärts und aus den Bergen hinaus und ritten schließlich durch sanfte Hügel auf die Küste zu. Sie sahen das schwarze, dumpf brütende Meer, das hin und wieder glitzerte, wenn sich die Schneewolken teilten und dem Mond gestatteten, seine Strahlen herabzuschicken.

Plötzlich scheuten die Pferde, und ganz in der Nähe begannen Wölfe zu heulen. Fidelma blickte den Hang hinauf, erspähte mehrere dunkle Schatten, die über den weißen Schnee dahineilten, und unterdrückte ein Schaudern.

»Die Königin der Nacht leuchtet hell«, murmelte Ross besorgt. »Vielleicht zu hell.«

Fidelma fragte sich im ersten Moment, wovon er sprach. Dann fiel ihr wieder ein, daß es unter Seeleuten verpönt war, Mond oder Sonne direkt beim Namen zu nennen. Den Mond bezeichnete man häufig als »Königin der Nacht« oder einfach als »das Helle«. In der alten Sprache von Éireann gab es noch viele andere Umschreibungen für den Mond, so daß sein heiliger Name niemals erwähnt werden mußte, denn früher, in heidnischen Zeiten, hielt man den Mond für eine Göttin, deren Macht kein Sterblicher heraufbeschwören durfte, indem er ihren Namen aussprach.

»Hoffentlich ziehen dichtere Wolken auf, bevor wir die Ortschaft erreichen«, erwiderte Fidelma.

Das Heulen des Wolfsrudels wurde leiser und verzog sich allmählich über die Berge.

Eine Ewigkeit schien vergangen, bevor Ross sein Pferd zum Stehen brachte und hügelabwärts deutete. Tief unter ihnen konnte Fidelma das Glühen von Lagerfeuern ausmachen.

»Das sind die Gebäude in der Nähe der Minen. Sie liegen inmitten von Feldern, auf der Kuppe einer Klippe. Unterhalb der Klippe kommt man zum Strand und zu dem Hafen, von dem, wie mir die Inselbewohner von Doirse erzählten, das gallische Schiff losgesegelt ist.«

Fidelma spähte ins Dunkel. Natürlich, vorher hatte sich alles so leicht dahingesagt: wir reiten über die Halbinsel zu den Minen und finden heraus, was mit der Besatzung des Handelsschiffes geschehen ist. Hier, im eiskalten Licht des Mondes, wurden ihr die Schwächen ihres Planes bewußt. Als Ross ihr Grübeln mit den Worten: »Was nun, Schwester?« unterbrach, hätte sie ihn in ihrer gereizten Stimmung beinahe barsch zurechtgewiesen.

»Wißt Ihr, wie viele Leute dort unten wohnen?«

»Zahlreiche Arbeiter aus den Minen und deren Familien.«

»Alles Gefangene, Geiseln und Sklaven?«

Ross zuckte die Achseln.

»Alle wohl nicht, aber doch viele. Sollten die Gallier darunter sein, müßten wir sie leicht finden. Zumindest werden die meisten Bewohner wissen, wo sie sich aufhalten.«

»Wie steht es mit Wachen?«

»Das kann ich nicht genau sagen. Als ich das letzte Mal Waren zu den Minen brachte, waren nur wenige Bewaffnete dort. Doch nach dem, was mir die Inselbewohner über die Krieger der Ui Fidgenti berichtet haben, könnten es jetzt bis zu fünfzig sein, vielleicht sogar mehr.«

»Kennt Ihr Euch in der Ortschaft aus? Wißt Ihr, wo man die Gefangenen aller Wahrscheinlichkeit nach eingesperrt hat?«

Als Antwort schwang sich Ross vom Pferd und winkte ihr, ihm zu folgen. Er wählte einen unberührten Flecken Schnee, zog sein Schwert und zeichnete mit der Spitze mehrere Vertiefungen em.

»Das da sind die Eingänge zu den Minen.« Die Schwertspitze diente ihm jetzt als Zeigestock. »Und dort führt ein Pfad in die Ortschaft hinunter. Hier und hier liegen die Hütten. Es gibt zahlreiche größere Hütten, in denen vermutlich die Arbeiter wohnen. Mehr kann ich Euch nicht sagen.«

Fidelma starrte auf die Zeichnung und seufzte.

»Wir reiten noch ein Stückchen weiter, und Ihr und Odar wartet dann dort bei den Pferden, während ich zu Fuß ins Dorf gehe.« Sie hob eine Hand, um Ross’ Protesten Einhalt zu gebieten. »Allein kann ich womöglich mehr erreichen als wir drei zusammen. Wir würden nur unnötig Aufmerksamkeit auf uns ziehen.«

»Aber Ihr wißt nicht, was Euch dort unten erwartet«, wandte Ross ein. »Vielleicht gleicht der Ort einem Heerlager, in dem Fremde nicht willkommen sind.«

Bevor er weitere Einwände vorbringen konnte, war Fidelma wieder aufgesessen und trabte den Pfad hinunter auf die flackernden Lichter zu. Als sie sich den Gebäuden näherten, begann ein Hund zu kläffen. Eine heisere Stimme verfluchte den Köter in dem Glauben - zumindest entnahm Fidelma dies den Verwünschungen -, das arme Tier belle die Wölfe am Berghang an. Sie hob die Hand und winkte ihre Gefährten in den Schutz der umstehenden Bäume und Büsche, wo sie, vor Blicken aus dem Ort geschützt, absaßen. Wortlos überreichte sie Ross die Zügel ihres Pferdes und schüttelte heftig den Kopf, als er zu neuen Protesten ansetzen wollte.

Sie zog den Umhang fester um ihre Schultern und machte sich auf den von Schneematsch bedeckten Weg in die Ortschaft. Es handelte sich nicht um eine befestigte Siedlung, die Gebäude schienen eher zufällig verstreut zu liegen. Fidelma hatte keine Ahnung, wohin sie sich wenden oder was sie tun sollte, doch sie hielt sich im Schatten der Hütten und lief einfach entschlossen weiter, als hätte sie jedes Recht, hier zu sein. Zwischen zwei Hütten tauchte eine Gestalt mit einer Laterne auf und wollte sie überholen, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Es war ein untersetzter Krieger, der Schild und Speer auf dem Rücken trug.

Mit klopfendem Herzen richtete Fidelma das Wort an ihn.

»Krieger!« rief sie, und in ihrer Stimme lag alle Autorität, die sie aufbieten konnte.

Der Mann blieb stehen und drehte sich um. Er schien nicht überrascht, daß eine Fremde ihn in der Dunkelheit ansprach, und sie sorgte dafür, daß das Licht seiner Laterne auf das Kruzifix fiel, das an einer Kette um ihren Hals hing.

»Ja, Schwester?« In seiner Stimme lag keinerlei Mißtrauen, lediglich Neugier und Respekt. Seine Gesichtszüge konnte sie nicht erkennen, hoffte jedoch, sie entsprächen seinem Tonfall. Sie beschloß, alles auf eine Karte zu setzen.

»Unter den Gefangenen befindet sich ein sächsischer Mönch. Ich muß ihn verhören. Wißt Ihr, wo man ihn gefangenhält?«

»Ein Sachse?« Der Mann dachte einen Augenblick nach. »Ach Ja. Er ist zusammen mit den Nonnen eingesperrt. Seht Ihr die zweite Hütte da drüben, gleich neben der Baumgruppe? Dort könnt Ihr ihn finden.«

»Vielen Dank, Krieger.«

Der Bewaffnete hob eine Hand zum Abschied und marschierte davon.

Fidelma konnte kaum glauben, daß es so einfach war. Eine Zeile aus der lateinischen Komödie Phormio von Terenz ging ihr durch den Kopf: audentes fortuna juvat - die Tapfern fördert das Glück. Ihr Mentor, Brehon Morann von Tara, hatte sie häufig zitiert und seinen eigenen Grundsatz hinzugefügt: Solange man die Höhle des Wolfs nicht betritt, kann man die Wolfsjungen nicht fangen. Das Glück war ihr zweifellos hold gewesen, und sie hatte sich problemlos Einlaß in die Höhle verschafft.

Sie eilte zu der großen Hütte, die der Krieger ihr gezeigt hatte und die etwas abseits ganz am Ende der Ortschaft stand, direkt am Rande des Waldes, der als Schutzwall zu den Bergen hin diente. Das nächste Gebäude war etwa dreißig Meter entfernt. Die Hütte lag offenbar im Dunkeln, doch hinter einem mit Sackleinen verhängten Fenster vermeinte sie das schwache Flackern einer Laterne zu sehen. Sie trat näher ans Fenster und lauschte angestrengt. Zuerst konnte sie nichts hören, doch dann vernahm sie ein merkwürdiges Kratzen, wie von Metall auf Metall. Sie erhob sich auf die Zehenspitzen, lüpfte behutsam das Sackleinen und spähte vorsichtig hinein.