»Seht draußen nach, ob die Luft rein ist«, wies sie Eadulf an.
Der hochgewachsene Mönch nickte knapp und zog die Tür auf. Gleich darauf meldete er sichtlich zufrieden: »Niemand zu sehen.«
»Dann brechen wir auf. Geht seitlich um die Hütte herum und in den Schutz des Waldes dahinter. Leise, es gibt hier mindestens einen Hund.«
Sie verließen die Hütte, und Fidelma bedeutete Ea-dulf, die Tür zu schließen und den hölzernen Querbalken an seinen Platz zurückzuschieben, so daß diese, von außen betrachtet, nach wie vor verschlossen wirkte. Vorsichtig schlichen sie zur Ecke des Gebäudes. Ganz in der Nähe begann ein Hund zu jaulen, und sein Geheul wurde von den Wölfen hoch oben in den Bergen beantwortet. Sie hörten Fluchen und dann durchdringendes Winseln. Offensichtlich hatte der verärgerte Hundebesitzer etwas nach dem armen Tier geworfen.
Fidelma führte sie seitlich an der Hütte vorbei in den darunterliegenden, dichten Wald. Hier stand eine Gruppe von Eiben mit runden Baumkronen, dort wucherten in verschwenderischer Fülle Stechpalmengewächse, vor allem die weiblichen Arten mit ihren leuchtendroten Beeren, und überall wuchsen junge Bäume mit grüner Rinde. Efeu rankte sich an den Stämmen und zwischen den Holunderbüschen empor, so daß der Wald sie mit einem natürlichen Schutzschild umfing. Fidelma versuchte, den spitzen Dornen der unteren Blätter auszuweichen.
»Meine Freunde müßten ganz in der Nähe sein«, flüsterte sie und deutete auf den Pfad. Sie führte sie schweigend im Halbkreis um den Ort herum und hielt sich dabei stets im Schatten der Bäume und Büsche, bis sie auf Ross stießen, der mit Odar und den Pferden schon ungeduldig wartete. Verblüfft musterte der stämmige Kapitän Fidelmas Begleiter.
»Jetzt haben wir keine Zeit für Erklärungen«, sagte Fidelma, bevor er auch nur anfangen konnte Fragen zu stellen. »Wir müssen zusehen, daß wir hier wegkommen.«
Ross reagierte sofort auf ihr Drängen.
»Wir könnten ein paar Meilen zurückreiten, zu den Höhlen am Berghang. Die alte . die Schwester kann hinter Euch aufsitzen, der Mönch hinter mir.«
Fidelma war einverstanden und schwang sich auf ihr Pferd.
»Odar, helft Schwester Comnat, hinter mir aufs Pferd zu steigen.«
Mit seiner Unterstützung gelang es der älteren Nonne, die noch immer ganz benommen wirkte, auf Fidelmas Pferd zu klettern. Ross saß auf und half Eadulf hinter sich in den Sattel. Dann wendete er und ritt voraus, den Pfad entlang durch den Wald, der sie vor neugierigen Blicken aus der Ortschaft unter ihnen schützte. Nach einer halben Stunde ließ Ross sie anhalten: auf einer kleinen Lichtung vor dem hinter Felsen verborgenen Eingang zu einer großen Höhle, vor der der Schnee schon halb geschmolzen war. Er bedeutete ihnen, abzusteigen und die Pferde in die Höhle mitzunehmen, damit sie nicht zufällig entdeckt werden konnten.
»Kommt«, wies er die kleine Gruppe an, »es gibt Platz genug da drinnen, und wir sind vor neugierigen Blicken geschützt.«
Ross hatte recht. Die Höhle war so geräumig, daß er die Pferde im hinteren Teil anbinden konnte, während die kleine Gruppe sich auf trockenen Felsen, die sich als ausgezeichnete Sitzgelegenheiten erwiesen, im Kreis versammelte.
»Ich glaube, unser Reiseschlauch mit cuirm ist jetzt genau das richtige«, verkündete Fidelma feierlich.
Odar holte ihn aus seiner Satteltasche, löste den Pfropfen und reichte ihn zuerst Schwester Comnat. Das scharfe Getränk entlockte ihr nach dem ersten Schluck ein Husten und nach dem zweiten ein dankbares Lächeln.
Fidelma ergriff den Reiseschlauch als nächste, hielt inne und gab ihn schweigend an Eadulf weiter.
»Ich glaube, Ihr habt das jetzt nötiger als ich.«
Eadulf erhob keine Einwände, sondern nahm einen tiefen Schluck.
Er grinste entschuldigend, bevor er ihr den Schlauch zurückreichte, und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Lange her, seit ich etwas so Befriedigendes bekommen habe«, gestand er.
»Was ist passiert, Eadulf?« fragte Fidelma, nachdem sie sich dank der wärmenden Wirkung des Alkohols ein wenig entspannt hatten. »Erzählt Ihr Eure Geschichte zuerst. Wie seid Ihr als Gefangener an diesen Ort gekommen? Als ich mich in Rom von Euch verabschiedete, solltet Ihr dem neuen Erzbischof von Canterbury als Lehrer dienen. Ich dachte, Ihr würdet mindestens einige Jahre dort bleiben, bevor Ihr in Eure Heimat zurückkehrt.«
»Das habe ich auch gedacht«, bestätigte Eadulf
»Aber wie Vergil schon sagte: dis aliter visum -Göttern hat’s anders gedünkt! Man kann seinem Schicksal nicht entgehen.«
Fidelma spürte, wie ob seiner umständlichen Art wieder der alte Ärger in ihr hochstieg, und wollte gerade eine sarkastische Bemerkung einwerfen, als sie über die Widersinnigkeit dieses Gedankens plötzlich laut lachen mußte. Sie hatte so viel riskiert, um die Rettungsaktion für Eadulf zu organisieren - nur, um sich über ihn zu ärgern, sobald er den Mund aufmachte? Der Sachse sah sie verwirrt an.
»Sprecht weiter, Eadulf«, forderte Fidelma ihn, noch immer lächelnd, auf. »Ihr wart also in Rom und hattet vor, noch einige Zeit dort zu bleiben.«
»Theodor von Tarsus traf Vorkehrungen für seine Reise nach Canterbury, wo er sein Amt als Erzbischof antreten sollte. Er hatte beschlossen, Abgesandte vorauszuschicken, um seine Amtseinführung dort vorzubereiten. Seit der Synode in Hildas Abtei vor zwei Jahren haben alle sächsischen Königreiche Canterbury als Sitz ihres obersten Bischofs anerkannt, genau wie Ihr hier in Irland Armagh als den Sitz der Nachfolger Patricks betrachtet.«
»Ja, Ja«, drängte Fidelma, die sich erneut über Ea-dulfs Weitschweifigkeit zu ärgern begann. »Aber was macht Ihr hier in Éireann?«
»Dazu wollte ich gerade kommen«, erwiderte der Mönch beleidigt. »Der Erzbischof wollte auch Emissäre in die irischen Königreiche entsenden und nach der Ausweisung der irischen Kirchenvertreter aus den sächsischen Königreichen Frieden schließen. Er wollte einen Dialog mit den irischen Kirchen eröffnen, vor allem, da er mit vielen Kirchenvertretern in Irland in Verbindung steht, die die Lehre Roms in den kirchlichen Institutionen einführen möchten.«
Fidelma machte ein vielsagendes Gesicht.
»Ja. Bischöfe wie Ultan von Armagh würden einen solchen Dialog zweifellos begrüßen. Aber wollt Ihr damit sagen, daß Ihr als Abgesandter zu Erzbischof Ultan geschickt wurdet?«
»Nein, nicht zu Ultan, sondern zum neuen König von Muman in Cashel.«
»Zu Colgü?«
»Ja, zu Colgu. Ich sollte als Vermittler zwischen Canterbury und Cashel fungieren.«
»Wie seid Ihr dann ausgerechnet in dieser abgelegenen Gegend unseres Königreiches gelandet?«
»Ich reiste von Rom nach Gallien. In Gallien suchte ich in den Seehäfen nach einem Schiff, das mich direkt nach Muman bringen würde, was meine Reise sehr beschleunigt hätte. Doch dann hat mich mein Glück verlassen. Schließlich buchte ich eine Überfahrt auf einem gallischen Handelsschiff, das einen Hafen in Muman anlaufen sollte, wo es Kupferminen gibt. Man wolle dort Waren tauschen, wurde mir gesagt.
Der Kapitän des Schiffes mußte zuerst seine Ladung abliefern und schwor, daß er mich danach zu einem Ort namens Dun Garbhan bringen würde. Von dort könnte ich mir ein Pferd nehmen und auf kürzestem Wege nach Cashel reiten. Das wäre für mich kein Problem gewesen, ich habe schließlich mehrere Jahre in diesem Land studiert und kenne mich einigermaßen aus ...«
Fidelma wußte ganz genau, daß Eadulf sowohl an der berühmten kirchlichen Hochschule in Durrow als auch am Kollegium der Medizin in Tuam Brecain studiert hatte und fließend Irisch sprach - auch jetzt verständigten sie sich in dieser Sprache.
»Aber Ihr sagtet, das Glück habe Euch verlassen. Was ist passiert?«
»Ich wußte nicht, was für eine Ladung transportiert werden sollte, doch mir fiel auf, daß außer der Besatzung auch zahlreiche Franken an Bord gingen. Mit einem von ihnen, der recht schwatzhaft war, kam ich bald ins Gespräch. Sie waren offensichtlich Soldaten, besser gesagt: Söldner, die ihre Dienste verkaufen wollten.«