»Aber irgend jemand muß die Leiche doch erkannt haben?«
Fidelma wollte der Schwester nicht noch mehr Kummer bereiten, doch es hatte keinen Sinn, ihr die Wahrheit zu verschweigen.
»Die Tote wurde enthauptet, und der Kopf ist verschwunden. Es handelte sich um den Leichnam eines jungen Mädchens, kaum achtzehn Jahre alt. An der rechten Hand hatte sie Tintenflecke, an Daumen und Zeigefinger und an der Außenseite des kleinen Fingers. Daraus schließe ich, daß sie als Kopistin oder in einer Bibliothek arbeitete. Außerdem war deutlich zu sehen, daß sie erst vor kurzem eine Fußfessel getragen hatte und ausgepeitscht worden war.«
Schwester Comnat holte tief Luft.
»Dann ist es tatsächlich Schwester Almu, aber ... wo wurde der Leichnam entdeckt?«
»Im Hauptbrunnen der Abtei.«
»Das verstehe ich nicht. Wenn sie von Gulbans Leuten oder von den Ui Fidgenti geschnappt wurde, warum sollten die den Leichnam im Brunnen der Abtei verstecken und so erst recht Aufmerksamkeit erregen?«
Fidelma lächelte verkrampft.
»Dieses Rätsel muß ich noch lösen.«
»Wir sollten jetzt unser weiteres Vorgehen planen«, warf Ross dazwischen. »Bald wird es hell, und sobald das Verschwinden von Schwester Comnat und dem Sachsen dort auffällt, werden sie Suchtrupps losschik-ken.«
»Ihr habt ganz recht, Ross«, stimmte Fidelma ihm zu. »Jemand muß nach Ros Ailithir segeln und dort Bran Finn und meinen Bruder warnen. Sie müssen Krieger schicken, damit diese Höllenmaschinen - die tormenta, wie Eadulf sie nennt - vernichtet werden, bevor sie gegen Cashel zum Einsatz kommen.«
»Wir segeln alle dorthin. In der Abtei ist es jetzt sowieso zu gefährlich«, erwiderte Ross. »Falls Adnar Verdacht schöpft, seid Ihr dort nicht mehr sicher. Ad-nar lebt in der Festung direkt gegenüber der Abtei«, erklärte er Eadulf, »und im Augenblick weilen Gul-bans Sohn Olcan sowie Torcan von den Ui Fidgenti als Gäste bei ihm.«
Eadulf pfiff leise durch die Zähne.
»Das läßt nichts Gutes erwarten.«
»Falls Adnar in die Verschwörung verstrickt ist, hat er möglicherweise auch Komplizen in der Abtei«, fügte Fidelma nachdenklich hinzu.
»Deshalb sollten wir uns alle einschiffen und nach Ros Ailithir aufbrechen. Schon morgen abend könnten wir dort sein.«
»Nein, Ross. Ihr nehmt Schwester Comnat mit und segelt unverzüglich los, um Abt Broce zu informieren. Schwester Comnat ist Eure Zeugin. Außerdem müssen Boten zu meinem Bruder in Cashel geschickt werden, so daß er sich auf einen etwaigen Angriff der Ui Fidgenti vorbereiten kann. Gleichzeitig müßt Ihr Bran Finn bitten, seine Krieger so schnell wie möglich zu den Kupferminen zu entsenden, um die tormenta zu vernichten und die fränkischen Söldner gefangenzunehmen, noch bevor sie nach Cashel aufbrechen können.«
»Und was machen wir?« fragte Eadulf.
»Ich muß in die Abtei zurück, sonst wird man sofort wissen, daß das Komplott aufgeflogen ist, und Gulbans Männer würden Cashel vielleicht um so schneller angreifen. Aus diesem Grund muß auch das gallische Schiff bleiben, wo es ist, denn sein Verschwinden würde unsere Gegner sofort in Alarmbereitschaft versetzen. Ihr, Eadulf, begleitet Odarund geht mit ihm und einigen von Ross’ Männern sozusagen als Notbesatzung an Bord. Ihr werdet Euch dort verstecken. Sollte mir jemand auf die Schliche kommen, können Odar und seine Leute mir zur Flucht verhelfen.«
»Und wenn man Euch jetzt schon mißtraut? Sie wissen doch, daß Ihr Colgus Schwester seid«, protestierte Ross. »Sie könnten Euch als Geisel nehmen.«
»Das Risiko muß ich eingehen«, erwiderte Fidelma mit Nachdruck. »Neben der Verschwörung gegen Cashel habe ich noch ein anderes Geheimnis aufzuklären. Ich muß bleiben, bis die Sache durchgestanden ist. Wenn alles gutgeht, Ross, könntet Ihr in drei Tagen zurück sein.«
»Und wer garantiert in diesen drei Tagen für Eure Sicherheit, Fidelma?« fragte Eadulf. »Wenn Ihr in der Abtei bleibt, sollte ich mich ebenfalls dort aufhalten.«
»Unmöglich!«
Doch Ross nickte zustimmend.
»Der Sachse hat recht, Schwester. Jemand sollte in Eurer Nähe bleiben.«
»Unmöglich!« wiederholte Fidelma. »Sobald sie die Flucht von Schwester Comnat und Bruder Eadulf entdecken, werden sie in der Abtei nach ihnen suchen. Eadulf würde auffallen wie ein bunter Hund. Nein, er bleibt bei Odar an Bord des gallischen Schiffes.«
»Das ist doch sicher genauso gefährlich«, wandte Odar ein.
»Sobald die Ui Fidgenti wissen, wo sich das verschwundene Schiff befindet, werden sie kommen und es zurückfordern.«
»Sie wissen schon seit Tagen, wo es vor Anker liegt«, entgegnete Fidelma. »Es wurde sicher entdeckt, sobald Ross es in die Meerenge von Dun Boi schleppte. Wahrscheinlich hat Adnar deshalb versucht, es unter Hinweis auf die Bergegesetze für sich zu beanspruchen. So hätte er es zurückbekommen, ohne Verdacht zu erregen. Ich glaube, es liegt ganz im Interesse unserer Gegner, es im Augenblick einfach weiter vor Dun Boi ankern zu lassen. Das gallische Schiff ist der letzte Ort, an dem sie nach Euch suchen werden, Ea-dulf. Ich werde mir ein Warnsystem ausdenken, um Euch und Odar zu informieren, falls es Schwierigkeiten gibt.«
»Eine gute Idee«, stimmte Odar schließlich nach reiflicher Überlegung zu. »Falls es Ärger gibt, müßt Ihr uns durch Signale verständigen, Schwester, oder zu uns an Bord kommen, damit wir davonsegeln können, wenn Gefahr droht.«
»Ich kann immer noch nicht nachvollziehen, wozu Ihr in der Abtei bleiben müßt«, wandte Eadulf ein.
»Ich habe meinen Eid als ddlaigh zu erfüllen«, erklärte Fidelma. »In der Abtei geschehen Verbrechen, die ich aufklären muß und die meiner Meinung nach nichts mit dem geplanten Umsturz zu tun haben. Dabei geht es um mehr als um das Verlangen nach politischer Macht. In der Abtei wurden zwei Morde verübt, die noch der Aufklärung bedürfen.«
Schwester Comnat entfuhr ein leises Stöhnen.
»Ein weiterer Mord außer dem an Schwester Almu? Welches Mitglied unserer Gemeinschaft ist denn noch verschieden?«
»Schwester Siomha, die rechtaire.«
Comnats Augen weiteten sich.
»Almus Freundin? Sie ist auch tot?«
»Auf die gleiche Weise umgebracht. In der Abtei verbirgt sich etwas abgrundtief Böses, das ich vernichten muß.«
»Wäre es nicht besser, damit zu warten, bis Ross zurückkommt und Verstärkung mitbringt?« schlug Eadulf vor. »Dann könnt Ihr Eure Untersuchung fortsetzen, ohne Angst vor einem Mörder oder Schlimmerem.«
Fidelma schenkte dem sächsischen Mönch ein Lächeln.
»Nein. Ich muß meine Arbeit beenden, bevor jemand Verdacht schöpft, daß die Verschwörung aufgeflogen ist, denn falls ich mich irre und doch ein Zusammenhang zwischen ihr und den Morden besteht, könnte der Mörder die Flucht ergreifen, bevor die Verbrechen aufgeklärt sind.«
Schwester Comnat schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe das alles nicht.«
»Das ist auch nicht nötig. Wir müssen jetzt aufbrechen, und Ihr müßt Abt Broce in Ros Ailithir und Bran Finn, dem Häuptling der Loigde, alles erzählen, was Ihr über die Ereignisse hier wißt.«
Fidelma erhob sich und half der Älteren, aufzustehen. Sie sah, daß Ross immer wieder gen Himmel blickte und wegen der herannahenden Morgendämmerung äußerst besorgt war.
»Beruhigt Euch, Ross«, ermahnte sie ihn scherzhaft. »In seinen Oden fordert Horaz: Aequam memento rebus in arduis servare mentem - In Bedrängnis zeig dich beherzt und tapfer. Nehmt die gute Schwester mit auf Eure barc. Ich erwarte Euch in drei Tagen zurück.« Dann wandte sie sich an Odar. »Sobald Ihr Eadulf sicher an Bord des gallischen Schiffes gebracht habt, vergeßt nicht, die Pferde zurückzugeben. Wir wollen schließlich nicht, daß Barr nach ihnen sucht und dadurch Adnars Aufmerksamkeit erregt.«