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Im Hauptraum der Bibliothek war es dunkel, und Fidelma hielt im Finstern vergeblich Ausschau nach einer Lampe.

Sie tastete sich zum Fuß der Treppe, die in den zweiten Stock hinaufführte. Plötzlich hörte sie ein Geräusch, als würde jemand über ihr einen Sack über den Boden schleifen.

Sie hielt einen Augenblick inne, schlich dann vorsichtig Stufe um Stufe hinauf und lauschte.

Da war das Schleifen wieder.

Jetzt lag der Fußboden in Augenhöhe, und Fidelma blickte sich um.

Jemand saß am Fenster und las, das Tageslicht nutzend, ein Buch.

Sie seufzte erleichtert auf.

Es war Berrach. Das Geräusch, das sie gehört hatte, war durch die Schritte der gehbehinderten Schwester entstanden.

»Guten Morgen, Schwester Berrach!« grüßte Fidelma und kletterte die letzten Stufen hinauf.

Die junge Nonne fuhr erschrocken zusammen und ließ das Buch, in das sie sich vertieft hatte, beinahe fallen.

»Ach, Ihr seid es, Schwester Fidelma.«

»Was macht Ihr denn hier?«

Berrach reckte abwehrend das Kinn.

»Ich habe Euch doch erzählt, daß ich gerne lese. Da Schwester Comnat und Schwester Almu noch nicht zurück sind und Schwester Siomha nicht da ist, um mir Vorschriften zu machen, muß ich nun nicht mehr mitten in der Nacht hier hinauf schleichen, wenn ich lesen will.«

Fidelma setzte sich neben Berrach.

»Auch ich bin hergekommen, um zu lesen, aber ich konnte unten keine Lampe finden.«

»Hier liegen Kerzen.« Berrach deutete auf einen Tisch. »Sucht Ihr ein bestimmtes Buch?«

»Ich wollte mir eines der Jahrbücher ansehen, die es hier geben soll. Und was lest Ihr gerade?« Fidelma beugte sich vor und warf einen Blick auf das Geschriebene.

»Eo na d Tri d Tobar ... Der Lachs aus den Drei Quellen!«

Fidelma war völlig perplex. Konnte das bloßer Zufall sein? »Was ist das für ein Text?« »Ein kurzer Bericht über das Leben von Necht, der Reinen, der Gründerin unserer Abtei«, antwortete Schwester Berrach.

»Wird darin auch ihr Streitgespräch mit Dedelchu, dem heidnischen Priester, erwähnt?«

Berrach starrte sie überrascht an.

»Ihr wißt wirklich eine Menge über diesen Ort. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht und jetzt zum ersten Mal etwas darüber gelesen.«

»Man schnappt immer das eine oder andere auf, Berrach. Steht in dem Buch viel über Dedelchu? Ein merkwürdiger Name. Die letzte Silbe ist leicht zu übersetzen, sie bedeutet >Wachhund von< - der Wachhund von Dedel. Ich frage mich, wer oder was Dedel ursprünglich war? Die Bedeutung dieser alten Namen zu verstehen ist faszinierend, findet Ihr nicht auch?«

Berrach schüttelte den Kopf.

»Eigentlich nicht. Ich interessiere mich mehr für Geschichte, dafür, wie die Menschen früher lebten. Aber wir haben hier in der Bibliothek eine Kopie des Wörterbuchs von Longarad.«

»Tatsächlich? Und Ihr habt einige der Chroniken gelesen?«

Berrach bejahte.

»Ich habe in allen Jahrbüchern gelesen, die in der Bibliothek zu finden sind.«

»Kennt Ihr auch die Chroniken von Clonmacnoise?«

»Kennen? Ja. Schwester Comnat hat die Kopie selbst angefertigt. Sie verbrachte sechs Monate in der Abtei des heiligen Kieran und schrieb dort das Buch ab, natürlich mit Zustimmung des Abtes. Ihr findet es hier irgendwo im Regal.«

»Es ist nicht mehr hier. Es wurde verliehen, und zwar, wie Schwester Lerben behauptet, an Torcan, der gerade als Gast bei Adnar weilt.«

»Torcan, der Sohn von Eoganan von den Ui Fidgenti?« fragte Berrach verblüfft. »Was will denn der damit?«

»Genau das hoffte ich herauszufinden. Ich glaube, er interessierte sich vor allem für die Geschichte von Cormac Mac Art. Eine bestimmte Seite war besonders häufig aufgeschlagen worden, ein Abschnitt über Cormacs Tod. Wahrscheinlich wißt Ihr auch nicht mehr, was dort steht?«

Berrach runzelte nachdenklich die Stirn.

»Ich verfüge über ein gutes Erinnerungsvermögen und ein ausgezeichnetes Langzeitgedächtnis.« Sie überlegte eine Weile. »In dem Kapitel geht es darum, wie Cormac seinen Feind Fergus tötete und danach ein weiser und angesehener Oberkönig wurde. Dann ging es noch um das Handbuch, das er geschrieben hat, und ...« Sie überlegte einen Augenblick. »Ach Ja. Dann ist da von einem goldenen Kalb die Rede, das in Tara aufgestellt wurde. Man erklärte es zu einem Gegenstand kultischer Verehrung, zu einer Gottheit, die alle anzubeten hatten. Die Priester dieses Kultes forderten Cormac auf, dem goldenen Idol zu huldigen, er aber weigerte sich und erklärte, er würde lieber dem Goldschmied huldigen, der dieses herrliche Bildnis geschaffen hatte. In dem Kapitel heißt es weiter, der oberste Priester des Kultes habe es so eingefädelt, daß dem Oberkönig bei einem Essen die Gräten eines Lachses im Halse steckenblieben, so daß er daran starb.«

Fidelma war fasziniert von der mühelosen Leichtigkeit, mit der sich Berrach an den Abschnitt erinnerte.

»Wißt Ihr noch mehr über die Geschichte?«

Die junge Nonne schüttelte den Kopf.

»Nur noch, daß ich sie eher symbolisch verstanden habe. Ich meine die Geschichte von dem heidnischen Priester, dem es gelungen ist, Cormac durch drei Lachsgräten zu töten.«

»Drei Lachsgräten?« hakte Fidelma nach. »Welche symbolische Bedeutung seht Ihr darin?«

»Meiner Meinung nach war das ein Hinweis auf die Identität des Priesters. Cormac ist wahrscheinlich ermordet worden, denn schließlich kann niemand bewirken, daß jemandem drei Fischgräten im Halse steckenbleiben - es sei denn, man glaubt an Schwarze Magie.« Berrach lächelte schelmisch. »Ich denke, Ihr habt unsere Gemeinschaft davon überzeugt, daß Dinge wie Zauberei und Magie nicht existieren.«

»Was weiß man noch über den Kult um das goldene Kalb?«

»Nicht viel. Der Abschnitt in den Chroniken von Clonmacnoise ist, soviel ich weiß, der einzige Hinweis auf die Erschaffung und Verehrung dieses Idols. Ich habe schon viele Jahrbücher gelesen, aber der Kult um das goldene Kalb wird sonst nirgendwo erwähnt.

Warum eigentlich nicht?« fügte sie nachdenklich hinzu, »denn falls es dieses sagenhafte Götzenbild wirklich gab, muß es doch ein Vermögen wert gewesen sein.«

Von der Treppe kam ein leises Schlurfen. Es war kaum hörbar, doch Fidelma bemerkte es, wirbelte herum und bedeutete Schwester Berrach zu schweigen. Sie wollte gerade zur Treppe hinüberschleichen, als dort Kopf und Schultern von Schwester Bronach auftauchten. Selbst im Halbdunkel konnte Fidelma erkennen, daß sie verlegen wirkte.

»Verzeiht, wenn ich Euch störe. Ich bin auf dem Weg nach oben, zur Klepsydra.«

Fidelma spürte, daß das eine soeben erfundene Ausrede war, doch Schwester Berrach schien nichts Ungewöhnliches daran zu finden und lächelte Bronach freundlich zu, während diese ins nächste Stockwerk hinaufstieg. Fidelma nahm ihr Gespräch mit Berrach wieder auf.

»Wenn ich mich recht erinnere, starb König Cor-mac vor fast vierhundert Jahren, nicht wahr?«

»Richtig.«

»Fällt Euch sonst noch etwas zu Cormac und dem goldenen Kalb ein?«

Schwester Berrach schüttelte den Kopf.

»Nein, aber ich weiß, daß Schwester Comnat erst vor kurzem einem Bettler eine Kopie von Cormacs Handbuch abgekauft hat. Das Buch heißt Teagasg Ri, Instruktionen des Königs. Ein alter Mann, der oben in den Bergen wohnte, kam eines Tages in die Abtei und erzählte Comnat, seine Familie habe das Buch seit vie-len Jahren aufbewahrt, doch er müsse es nun gegen Lebensmittel eintauschen. Ich kam gerade vorbei und hörte ihre Unterhaltung. Wenn Ihr Euch für Cormac interessiert, solltet Ihr es lesen. Es steht in der Bibliothek.«

Fidelma sagte nicht, daß sie das bereits wußte und daß sie sogar schon darin geblättert und, wie sie sich erinnerte, Spuren von rotem Schlamm entdeckt hatte.

»Wann hat dieser Tausch stattgefunden?«