»Das ist noch nicht lange her - vielleicht eine Woche, bevor Schwester Comnat und Schwester Almu nach Ard Fhearta aufbrachen.«
Fidelma erhob sich, nahm eine Kerze und zündete sie an.
»Vielen Dank, Schwester Berrach. Ich gehe das Buch suchen. Ihr wart mir eine große Hilfe.«
Cormacs Buch der Instruktionen, Teagasg Ri, hing in seiner Büchertasche an einem Haken. Sie nahm es heraus und schaute sich nach einer Sitzgelegenheit um. Nachdem sie die Kerze auf einem Sims abgestellt hatte, schlug sie es auf und blätterte die Pergamentseiten durch. Wieder fielen ihr überall die merkwürdigen rotbraunen Schmutzflecken auf, aber irgend etwas an dem Buch war anders als beim letzten Mal. Sie wünschte, sie hätte es damals aufmerksamer untersucht. Dann sah sie, daß zwei Seiten fehlten. Offensichtlich waren sie erst vor kurzem mit einer scharfen Klinge herausgetrennt worden, wahrscheinlich mit einem Messer, denn die nächste Seite war entlang der Trennlinie eingeritzt.
Warum hatte man die Seiten entfernt?
Sorgfältig studierte sie den Text.
Der Abschnitt hatte nichts mit dem Hauptteil des Buches zu tun, in dem es um die philosophischen Ideen von König Cormac ging. Es handelte sich um einen Anhang, einen Aufsatz über das Leben des Oberkönigs. Aus dem Text vor und hinter den fehlenden Blättern konnte sie nichts entnehmen. Sie schlug die erste Seite auf, um noch etwas anderes nachzusehen.
Das Buch war alt, doch von primitiver Machart und mit Sicherheit nicht von einem ausgebildeten Schreiber geschrieben. Beim Hauptteil des Buches handelte es sich, wie zu erwarten war, eindeutig um eine Kopie, aber Cormacs Kurzbiographie war ihr neu und schien von einem Historiker aus dieser Gegend verfaßt worden zu sein. Fidelma wünschte, Schwester Comnat wäre bei Bruder Eadulf auf dem gallischen Schiff geblieben. Sie hätte ihr bestimmt etwas über die fehlenden Seiten sagen können.
Eadulf! Plötzlich bemerkte sie, daß sie nicht mehr an ihn gedacht hatte, seit sie heute in aller Frühe todmüde auf ihr Bett gesunken war. Sie freute sich, daß er am Leben war, in Sicherheit und wohlauf, doch gleich darauf, als sie sich an die Befreiungsaktion in der vergangenen Nacht erinnerte, spürte sie deutlich ihre Erschöpfung. Sie mußte sich hinlegen - wenigstens kurz.
Sie stand auf, steckte das Buch in die lederne Büchertasche zurück und gähnte. Ihr Kiefer knackte widerspenstig, und sie betastete mit der Hand die empfindliche Stelle. Dann nahm sie die Kerze und wollte sie gerade ausblasen, da fiel ihr das Wort »Dedel« wieder ein, und sie sah in Longarads Wörterbuch nach. Seine Bedeutung überraschte sie nicht.
Dann kam ihr noch ein Gedanke.
Fidelma unterdrückte erneut ein Gähnen, ergriff die Kerze, hielt ihre Hand schützend vor die Flamme und verließ die Bibliothek. Unten ging sie zur Treppe in der Ecke und stieg hinunter. Auf halbem Wege sah sie, daß das Blut an der Wand getrocknet war. Es stammte -daran zweifelte sie keinen Augenblick - von Siomha. War die Schwester unten im subterraneus getötet und dann nach oben in den Turm gebracht worden, oder hatte man sie oben ermordet und ihren Kopf hinuntergetragen ...?
Sie stieg weiter in die Tiefe und blieb erneut stehen. Da war er, der gewölbte Eingang mit den Einritzungen darüber. Sie reichte hinauf und ließ ihren Finger über die Umrisse der primitiven Tierzeichnung gleiten. Dann seufzte sie.
»Dedelchu!« flüsterte sie zu sich selbst. »Der Wachhund von Dedel.«
Sie trat durch den Eingang in die Höhle mit der gewölbten Decke und nahm sie im flackernden Licht der Laterne gründlich in Augenschein.
Dort, wo die Leiche gelegen hatte, standen jetzt keine vier Kerzen mehr. Den flachen, länglichen Felsen benutzten die Schwestern offenbar als Tisch. Fidelma begann, die Höhlenwände abzuschreiten und so sorgfältig zu untersuchen, wie es ihr in dem schwachen, flackernden Licht nur irgend möglich war. Es gab nicht viel zu entdecken. Außer den großen Kisten, die an einer Seite des Raumes übereinandergestapelt standen, und der Reihe von amphorae und anderen Behältern, die nach Wem und Alkohol rochen, war die Höhle vollkommen leer.
Fidelmas eingehende Untersuchung brachte nichts weiter zutage, als daß es sich um eine ziemlich große Höhle handelte, die nur über zwei Treppen zu erreichen war: die eine führte aus dem gemauerten Vorratsraum hinunter, die andere direkt aus dem Turm. Sie starrte enttäuscht ins Dunkel. Als sie gerade gehen wollte, hörte sie plötzlich ein Geräusch, das sie so heftig zusammenfahren ließ, daß ihr die Kerze fast aus der Hand gefallen wäre.
Es war ein dumpfes Dröhnen - als würden zwei Holzboote aneinanderstoßen -, und es schien aus der Richtung genau hinter ihr zu kommen. Doch hinter ihr war nichts - nur massiver grauer Fels, Höhlenwände aus Stein. Sie drehte sich um, und ihre Gedanken überschlugen sich, während sie die Felswand musterte und nach einem Anhaltspunkt suchte. Da war es wieder, das dumpfe Dröhnen, als stießen zwei Boote gegeneinander. Sie legte eine Hand auf den kalten, feuchten Stein und wartete. Doch alles blieb still.
Fidelma wollte sich gerade umdrehen, da sah sie auf dem felsigen Boden einen dunklen Fleck. Sie bückte sich. Es war Erde. Noch feucht und klebrig. Und rotbraun. Die schlammige Erde war unregelmäßig verteilt, als wäre jemand hineingetreten und dann weiter durch die Höhle gestapft. Der einzig möglichen Logik gehorchend, folgte sie der Spur vom Eingang aus und gelangte so zu den hölzernen Kisten, die vor der Höhlenwand aufgestapelt waren.
Sie stellte die Kerze ab und versuchte, die oberste Kiste beiseitezuschieben, hatte jedoch nicht die Kraft dazu. Da hörte sie erneut das dumpfe, dröhnende Geräusch, das durch die Kisten zu dringen schien. Dann war es wieder still.
Kapitel 17
Als Fidelma auf ihrem Lager erwachte, war es dunkel. Erst wußte sie nicht, wo sie sich befand, doch dann erinnerte sie sich, daß sie nach ihrer ergebnislosen Durchsuchung der Höhle unter der Abtei ins Gästehaus zurückgekehrt, völlig erschöpft in ihrer Kammer ins Bett gefallen und augenblicklich eingeschlafen war. Sie spähte durch das Fenster nach draußen, wo noch kein nächtliches Dunkel herrschte, sondern das Dämmerlicht eines frühen Winterabends. Fidelma schätzte, daß ihr bis zum abendlichen Ängelus noch reichlich Zeit blieb. Sie benetzte ihr Gesicht mit kaltem Wasser und trocknete sich ab. Da sie in Kleidern geschlafen hatte, fror sie jetzt empfindlich, und sie reckte sich und ruderte mit den Armen, um sich zu wärmen. Sie hatte Hunger. Verärgert stellte sie fest, daß sie nun auch noch das Mittagessen verpaßt hatte.
Sie lief durch den von Kerzen beleuchteten Gang in Richtung Aufenthalts raum, in der Hoffnung, daß niemand ihre Abwesenheit bemerkt hatte. Zu ihrer Überraschung sah sie auf dem Tisch ein Tuch, und sie ahnte fast schon, was sich darunter verbarg, als sie es aufdeckte - Essen für sie.
Schwester Bronach!
Der doirseor der Abtei entging aber auch gar nichts, dachte Fidelma, und das bereitete ihr Kopfzerbrechen. Schwester Bronach wußte also, daß sie in der vergangenen Nacht unterwegs gewesen war, und wußte folglich auch, daß sie einen Großteil des Tages in tiefem Erschöpfungsschlaf gelegen hatte, um sich zu erholen. Wenn Schwester Bronach nicht an der Planung des Aufstandes gegen Cashel beteiligt, wenn sie dem König von Cashel also treu ergeben war, dann gab es keinen Grund zur Besorgnis. Doch Schwester Fidelma wußte nicht, wem sie hier im Land der Beara noch wirklich trauen konnte. Letztendlich würden doch alle ihren Häuptling Gulban unterstützen.
Sie setzte sich und stillte ihren Hunger mit den Speisen, die Schwester Bronach für sie aufgehoben hatte. Erfrischt und gestärkt verließ sie das Gästehaus, gerade als der Gong die volle Stunde schlug und die Glocke die Gemeinschaft zum Abendgebet rief. Man hatte nicht lange gebraucht, um die Klepsydra wieder richtig einzustellen - zweifellos Schwester Bronachs Verdienst. Nach der Ermordung von Schwester Siom-ha bedurfte es jetzt sicher einer mutigen Seele, um die langen Stunden der Nachtwache oben im Turm durchzustehen.