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Fidelma drückte sich in eine dunkle Ecke, als die Schwestern in Gruppen, gelegentlich auch einzeln, dem Ruf der Glocke folgten und eilig in die duirthech strebten. Sie hatte sich ganz automatisch im Halbdunkel verborgen, aber im selben Augenblick schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf. Sie wollte die Zeit nutzen, um sich auf das gallische Schiff zu stehlen und Eadulf um Hilfe zu bitten. In ihrem Geiste begann der nächste Schritt der Untersuchung bereits Gestalt anzunehmen.

Fidelma wartete, bis sich die Stimmen der Andächtigen gemeinsam zum Confiteor erhoben, dem allgemeinen Schuldbekenntnis, das dem Abendgebet stets vorausging. Der Name war vom Anfangs wort des Textes abgeleitet. Dann schlich sie zwischen den Gebäuden der Abtei zum Kai hinunter.

Auf dem gallischen Schiff, weit draußen in der Bucht, blinkten zwei Laternen. Es war ziemlich dunkel, doch das störte Fidelma nicht. Sie fand das kleine Ruderboot, kletterte hinein, löste die Vertäuung und stieß sich an der Seite des hölzernen Anlegestegs ab. Kurz darauf hatte sie die Ruder ins Wasser getaucht und glitt mit regelmäßigen Schlägen hinaus zum Schiff.

Es war ein stiller Abend, und durch die tiefhängenden Wolken wirkte die Dunkelheit noch schwärzer. Nicht einmal die Geräusche der Nachtvögel oder das Plätschern eines Meeresbewohners drangen an ihr Ohr. Nur ihre Ruderschläge durchbrachen die Stille.

»Ahoi!«

Das war Odar, der sie anrief, als sie sich dem Schiff näherte.

»Ich bin’s! Fidelma!« antwortete sie und kam mit ihrem Boot längsseits.

Hilfsbereite Hände streckten sich ihr entgegen, um ihr an Bord zu helfen und ihr Boot zu vertäuen.

An Deck hießen Odar und Eadulf sie willkommen.

»Wir haben uns Sorgen um Euch gemacht«, sagte Eadulf mit belegter Stimme. »Wir hatten heute nachmittag Besuch.«

»Olcan?« fragte Fidelma neugierig.

Odar nickte. »Woher wußtet Ihr das?«

»Er war auch in der Abtei, um herumzuschnüffeln. Ich glaube, er weiß bereits, daß Eadulf und Comnat entflohen sind. Ganz besonders interessierte ihn, wohin Ross gefahren war.«

»Ich habe ihm von Anfang an nicht getraut«, bestätigte Odar. »Wir haben Bruder Eadulf unten versteckt, solange er an Bord war.«

»Hat er Verdacht geschöpft?«

»Nein«, antwortete der Steuermann. »Er tat so, als wolle er nachprüfen, ob Ross’ Anspruch auf dieses Schiff als Bergegut rechtmäßig ist. Ich habe ihm erzählt, Ross sei geschäftlich unterwegs.«

»Ausgezeichnet«, bemerkte Fidelma anerkennend. »Das stimmt mit dem überein, was ich ihm gesagt habe. Ich glaube, unsere Verschwörer sind äußerst besorgt, daß Eadulf oder Comnat Alarm schlagen könnten, bevor ihr Plan zur Ausführung gelangt.«

Odar geleitete sie zur Kapitänskajüte, und Eadulf folgte den beiden.

»Wäre es in diesem Fall nicht klüger, sofort von hier zu verschwinden?« fragte er.

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Zuerst muß ich meinen Pflichten in der Abtei nachkommen. Und ich glaube, ich bin nahe daran, das Rätsel zu lösen.«

»Aber wir wissen doch, wer für den Mord an Almu verantwortlich ist«, warf Eadulf ein. »Odar hat mir von den Ereignissen in der Abtei berichtet, und daraus folgt logischerweise, daß Almu von dem jungen Mann getötet wurde, der ihr zur Flucht aus den Kupferminen verholfen hat. Daß er dazu in der Lage war und außerdem noch das Aussenden von Suchtrupps verhindern konnte, deutet darauf hin, daß es sich um eine hochgestellte Persönlichkeit handelt, vielleicht um einen Häuptling. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Ol-can der Täter.«

»Habt Ihr Olcan denn gesehen und wiedererkannt?«

»Nein«, gab Eadulf zu. »Aber es scheint alles zu passen.«

Fidelma bedachte ihn mit einem schelmischen Grinsen.

»Ihr seid wahrlich nicht untätig gewesen«, stellte sie belustigt fest. »Das einzige Problem bei Eurer Theorie, Eadulf, ist, daß wir kein Motiv haben. Warum sollte der Täter Almu erst die Flucht ermöglichen und sie dann umbringen? Für jede Tat gibt es ein Motiv, selbst wenn es uns noch so verrückt erscheint. Olcan kommt mir nicht vor wie ein Wahnsinniger, Und außerdem, wie würdet Ihr dann Schwester Siomhas Tod erklären?«

Eadulf zuckte die Achseln.

»Ich muß zugeben, daß ich in diesem Fall noch zu keinem Ergebnis gekommen bin.«

Fidelma lächelte.

»Dann kann ich vielleicht etwas Licht ins Dunkel bringen, Eadulf. Morgen früh brauche ich Eure Hilfe. Unter der Abtei liegt ein geheimnisvoller Ort, an den ich vordringen muß, aber das schaffe ich nicht allein. Ihr kennt meine Vorgehens weise, wir haben schließlich schon zusammengearbeitet. Eure Hilfe ist unbezahlbar.«

Eadulf musterte Fidelma eingehend. Er konnte ihre Mimik deuten und wußte, daß er nichts weiter von ihr erfahren würde, bevor es soweit war. »Wäre es nicht besser, Ross’ Rückkehr abzuwarten, bevor wir in dieser Sache etwas unternehmen?« fragte er seufzend.

»Je länger wir warten, desto leichter könnte Almus und Siomhas Mörder entkommen. Nein, morgen früh vor Tagesanbruch treffen wir uns unterhalb des Turmes der Abtei. Und seid vorsichtig. Kommt, bevor es hell wird, denn oben im Turm wacht immer eine Schwester, die die Wasseruhr beaufsichtigt.«

»Warum gehen wir nicht heute nacht?«

»Weil ich mich vor Schwester Bronach hüten muß, der doirseor der Abtei. Sie weiß, daß ich die ganze letzte Nacht unterwegs war, und sie hat wahrscheinlich längst Verdacht geschöpft und beobachtet mich ganz genau.«

»Glaubt Ihr, sie hat etwas mit der Sache zu tun?«

»Vielleicht. Aber mit welcher Sache, das kann ich noch nicht sagen. Mit der Verschwörung der Aufständischen? Oder mit den Morden? Ich weiß es einfach nicht.«

»Ihr scheint immerhin sicher zu sein, daß es sich dabei um zwei voneinander unabhängige Angelegenheiten handelt«, bemerkte Eadulf.

»Das nehme ich stark an. Ich hoffe, morgen kommen wir der Wahrheit ein Stück näher.«

Es war noch dunkel, als Fidelma aufstand, sich das Gesicht wusch und sich rasch ankleidete, bevor sie ihren schweren Umhang überwarf, der sie in der eisigen Kälte wärmen sollte. Draußen, zwischen den Abteigebäuden und im Innenhof, war alles weiß, und Fidelma nahm an, es hätte wieder geschneit. Es war jedoch Rauhreif, wie sie an dem funkelnden Glitzern, das sie umfing, erkennen konnte. Aber auf den Gipfeln der Berge war Schnee gefallen. Sein Widerschein in der herannahenden Morgendämmerung tauchte die Landschaft in ein unwirkliches Licht. Durch das Fenster betrachtete sie den Himmel, um an der Helligkeit der Sterne - die Schneewolken hatten sich verzogen - die Uhrzeit abzuschätzen, da erspähte sie am Berghang zwei dunkle Punkte, die sich bewegten. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und erkannte, daß sich dort zwei Berittene auf ihren Pferden in gefährlichem Tempo einen Weg durch den Schnee bahnten. Die Reiter trieben ihre Pferde zu so rasantem und waghalsigem Ritt an, daß sie sie eine Weile fasziniert beobachtete. Sie waren auf dem Weg zu Adnars Festung, und Fidelma fragte sich, was die frühmorgendlichen Besucher wohl zu solcher Eile veranlaßte.

Sie wendete sich nun der bevorstehenden Aufgabe zu, verließ das Gästehaus so leise wie möglich und überquerte den verharschten weißen Teppich aus Rauhreif, der den Hof wie eine glatte Eisfläche überzog. Das Knirschen unter ihren Füßen erschien ihr ungeheuer laut. Sie erreichte den Turm, doch in seinem Schatten war kein Eadulf zu sehen, und sie blieb stehen.

Fast im selben Augenblick drang das Geräusch von Holz, das auf Wasser schlägt, an ihr Ohr, und gleich darauf kam die hochgewachsene Gestalt Bruder Ea-dulfs auf sie zugestolpert. Auch er war in einen schweren Umhang gehüllt.

»Ganz schön kalt, Fidelma«, begrüßte er sie.