Fidelma legte einen Finger auf ihre Lippen.
»Folgt mir und seid leise!« zischte sie.
Sie führte ihn am Eingang zum Turm vorbei und betrat geräuschlos das steinerne Lagerhaus, wo sie stehenblieb und im Dunkeln herumhantierte. Eadulf hörte das Anschlagen des Feuersteins, und im nächsten Augenblick hatte Fidelma eine Laterne angezündet, die den Raum erleuchtete.
»Was machen wir jetzt?« fragte der Sachse flüsternd.
»Wir untersuchen eine Höhle«, flüsterte Fidelma zurück.
Sie begann, die Stufen aus roh behauenen Steinen in den unterirdischen Vorratsraum hinunterzusteigen, und Eadulf folgte ihr vorsichtig.
»Hier kann man nicht viel verstecken«, bemerkte er mit einem Blick über ihre Schulter. »Wohin führt die andere Treppe?«
»Die? Hinauf in den Turm. Aber kommt hier herüber. Hier brauche ich Eure Hilfe.«
Sie ging voraus zu den Kisten, die sich am Vortag ihren Bemühungen widersetzt hatten, und stellte umsichtig die Lampe ab.
»So leise wie möglich«, mahnte sie und bedeutete ihm, ihr beim Herunterheben der Kisten behilflich zu sein. Zu ihrer Überraschung waren nur die beiden oberen schwer. Neugierig riß Eadulf eine der verrottenden Holzlatten ab, um ihren Inhalt in Augenschein zu nehmen. Fassungslos starrte er hinein.
»Erde? Nichts als Erde und Geröll. Wer bewahrt schon Erde in einer Kiste auf?«
Fidelma sah sich bestätigt, daß sie der richtigen Fährte folgte, doch sie gab keine weitere Erklärung ab, sondern wies ihn an, ihr beim Wegräumen der anderen Kisten zu helfen. Die waren leer und leicht zu bewegen. Als Eadulf eine der unteren Kisten beiseiteschob, lächelte Fidelma voll finsterer Genugtuung.
In der Höhlenwand hinter der Kiste klaffte ein Loch, eine dunkle Öffnung, gut einen halben Meter breit und einen Meter hoch. Sie bückte sich und untersuchte den schmalen Durchgang zu einem Tunnel, der sich nach wenigen Metern etwas zu vergrößern schien. Die Spuren am Eingang zeigten deutlich, daß hier erst kürzlich gegraben worden war; die dabei anfallende Erde und das Geröll hatte man in die Kisten getan. Es war aber auch unverkennbar, daß nur der Eingang zum Tunnel mit Schutt aufgefüllt worden und der Tunnel selbst schon wesentlich älter war. Irgendwann vor längerer Zeit hatte also jemand den vorderen Teil des Ganges zugeschüttet, und vor kurzem hatte ihn jemand wieder freigelegt.
Fidelma hielt die Laterne so tief wie möglich in den Tunnel hinein, konnte jedoch nicht besonders weit sehen, denn der enge Durchgang machte einen Knick und verlor sich im Dunkeln. Immerhin konnte sie erkennen, daß der Tunnel nach wenigen Schritten etwa einen halben Meter höher wurde, ohne sich allerdings zu verbreitern. Sie überlegte einen Moment. Aus dem Durchgang drang kalte, modrigfeuchte Luft und der Gestank von fauligem Wasser. Aber irgendwohin mußte der Gang schließlich führen, und irgend jemand hatte es eilig gehabt, ihn freizulegen.
»Mir wird nichts anderes übrigbleiben, als mich da durchzuzwängen.«
Eadulf sah sie zweifelnd an.
»Ich weiß nicht, ob Ihr das schafft. Was ist, wenn Ihr steckenbleibt?«
Fidelma blickte ihn spöttisch an.
»Ihr könnt Ja hier auf mich warten, wenn Ihr wollt.«
Es war kalt, eisig kalt, als sie sich in den Tunnel zwängte. Die Wände waren feucht und die Steine stel-lenweise so scharfkantig, daß sie ihr die Kleider zerrissen und die Haut aufschürften. Auch nach den ersten Metern wurde es kaum besser. Plötzlich machte der Gang einen Knick, und dann noch einen, und dann stand sie, von dem unerwarteten Anblick völlig verwirrt, in einer kleineren, niedrigen Höhle. Sie war nicht einmal zwei Meter hoch und ebenfalls dunkel und eiskalt, und die Luft war geschwängert von abscheulichstem Verwesungsgestank.
Fidelma hob die Laterne höher und streckte eine Hand aus, um sich abzustützen.
Die Oberfläche, die sie berührte, fühlte sich merkwürdig an, kalt und weich, wie nasses Fell.
Augenblicklich zog sie die Hand zurück und holte die Laterne näher heran.
Übelkeit stieg in ihr auf, und sie bemühte sich, nicht vor Ekel laut aufzuschreien.
Sie hatte ihre Hand auf einen Kopf gelegt. Einen abgeschnittenen Kopf, der auf einem Felsvorsprung in der Höhlenwand ruhte. Es war der Kopf einer Frau, deren langes, dunkles Haar in feuchten Strähnen daran klebte. Daneben lag ein zweiter Frauenkopf. Einer der Köpfe war bereits in Verwesung übergegangen, das Fleisch war weiß und von Fäulnis zerfressen, der Gestank unerträglich.
Fidelma brauchte keine hellseherischen Fähigkeiten, um zu erraten, daß es sich um die verschwundenen Köpfe von Schwester Almu und Schwester Siom-ha handelte. Siomhas Gesichtszüge waren noch deutlich zu erkennen.
Fidelma spürte, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte, und diesmal entfuhr ihr vor Schreck ein angstvolles Stöhnen. Fast wäre ihr die Laterne aus der Hand gefallen. Sie wirbelte herum und erblickte Ea-dulf, der sie fragend anstarrte.
»Einen Fuchs an Euern Angelhaken!« fauchte sie ihn wütend an, seufzte dann jedoch vor Erleichterung auf.
Eadulf zuckte zusammen. An irische Flüche aus dem Munde von Fidelma war er nicht gewöhnt.
»Tut mir leid. Ich dachte, Ihr wüßtet, daß ich dicht hinter Euch bin.«
Er verstummte, als sein Blick im flackernden Licht der Laterne auf Fidelmas grausige Entdeckung fiel. Würgend stieß er hervor: »Sind das ...?«
Fidelma bemühte sich immer noch, ihr wild hämmerndes Herz zu beruhigen.
»Ja. Der eine stammt von Schwester Siomha, der andere vermutlich von Schwester Almu.«
»Ich verstehe das nicht. Warum hat man ihre Köpfe hierhergebracht?«
»Zur Zeit ist noch vieles schwer zu verstehen«, erwiderte Fidelma. »Wir sollten uns mal gründlich hier umsehen.«
In der niedrigen Höhle mußte Fidelma den Kopf einziehen. Mit der Laterne in der Hand schob sie sich tastend in die Dunkelheit.
Plötzlich packte Eadulf sie am Handgelenk und riß sie so heftig zurück, daß sie nach Luft rang.
»Einen Schritt weiter, und Ihr wäret hineingefallen!« erklärte er, als sie ihn verwundert anstarrte.
Fidelma schaute nach unten.
Vor ihr erstreckte sich eine dunkle Fläche, von der das Licht der Laterne wie von einem Spiegel zurückgeworfen wurde: Wasser. Ein unterirdisches Becken, das den größten Teil der Höhle einnahm. Auf dem Wasser trieben mehrere, offensichtlich leere Holzfässer. Hin und wieder entstand eine leichte Wellenbewegung, und die Fässer schwammen gefährlich nah aneinander vorbei. Wenn sie sich berührten, überlegte Fidelma, entstand das dumpfe, klopfende Geräusch, das zweifellos - da die Höhle es verstärkte - weithin zu hören war.
Von dem Wasserbecken und den Fässern abgesehen schien der Raum allerdings leer zu sein. Das Becken mußte durch einen unterirdischen Zufluß aus der Meerenge gespeist werden. Das erklärte auch die kleinen Wellen, die dann und wann die Wasseroberfläche kräuselten. Es handelte sich jedoch im großen und ganzen um ein stehendes Gewässer, das nicht mit den Gezeiten stieg und fiel. Fidelma war dennoch enttäuscht: sehr ergiebig war die Höhle nicht. Sie hatte erwartet, mehr zu finden, wesentlich mehr als nur ein trostloses Wasserbecken und leere Holzfässer. Zwischen den Felsen und Steinplatten, die den Boden der Höhle bildeten, war die Erde aufgewühlt - überall war rotbrauner Schlamm.
Sie leuchtete mit der Laterne die Felswände ab. Hier und dort zeigten Spuren eines grünlichen Films auf der Oberfläche an, wo sich Metalladern durchs Gestein zogen.
Schließlich fragte Eadulf: »Was ist das da? Leuchtet doch mal in diese Richtung.«
Er deutete auf eine Stelle am Rande des Lichtkreises, den die Laterne warf, auf eine Stelle an der Höhlenwand, genau in Augenhöhe. Fidelma trat näher.
Die Einritzungen in der Wand erinnerten sie an jene, die sie oben an der Treppe über dem gewölbten Eingang zum Vorratsraum gesehen hatte.
»Der Wachhund von Dedel«, sagte Fidelma leise.