»Ich verstehe. Hat die Äbtissin das Buch behalten?«
»Nein, ich kümmerte mich darum und brachte es sofort in die Bibliothek. Dort bat ich Schwester Almu, es durchzusehen und in den Bestand einzuordnen.«
»War Schwester Almu trotz ihrer Jugend eine gelehrige Schülerin?«
»Sie war sehr gelehrig. Sie hatte eine sehr schöne Handschrift und konnte Griechisch, Latein und Hebräisch.«
»Kannte sie auch die Oghamschrift und die Sprache der Féine?«
»Selbstverständlich. Ich selbst habe sie darin unter-richtet. Sie hatte eine rasche Auffassungsgabe. Bei allem Respekt für die Verblichene - Almu hatte sich zwar nicht mit Leib und Seele der Verbreitung des Glaubens verschrieben, doch sie war eine begeisterte Büchernärrin und interessierte sich besonders für alte Chroniken.«
»Also hat Almu das Buch durchgesehen?«
»Ja.«
»Wenn ihr irgend etwas Ungewöhnliches an dem Buch aufgefallen wäre, mit wem hätte sie darüber gesprochen?«
Schwester Comnat runzelte die Stirn.
»Ich bin die Bibliothekarin.«
»Aber«, Fidelma wählte ihre Worte mit Bedacht, »falls sie Euch nicht damit behelligen wollte, könnte sie sich dann auch ihrer Freundin, Schwester Siomha, anvertraut haben?«
»Schon möglich. Ich wüßte aber nicht, warum sie das hätte tun sollen.«
Unvermittelt erhob sich Fidelma und lächelte.
»Macht Euch keine Gedanken, Schwester Comnat. Ich glaube, so langsam wird mir alles klar.«
Draußen an Deck fragte sie Ross, ob einer seiner Matrosen sie unverzüglich zu Adnars Festung rudern könnte. Auf dem Weg dorthin gestand ihr Eadulf, daß ihm die Lage höchst verworren erschien, obwohl Fidelma mit ihm alles besprochen hatte, was seit ihrer Ankunft in der Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen passiert war. Eadulf kannte Fidelmas entrückten Blick bereits und wußte, was ihr undurchdringlicher, gelas-sener Gesichtsausdruck zu bedeuten hatte. Je dichter Fidelma ihrer Beute auf den Fersen war, desto weniger war sie geneigt, ihre Gedanken preiszugeben.
Fidelma legte beruhigend eine Hand auf seinen Arm.
»Die Voruntersuchung kann erst stattfinden, wenn Beccan so weit ist«, sagte sie. »Das gibt Euch reichlich Zeit, Euch Klarheit zu verschaffen.«
»Wollt Ihr behaupten, Almu und Siomha wußten von einem Geheimnis, hinter dem Torcan her war? Von einem Geheimnis, dessentwegen er sie ermordete und auch uns getötet hätte?«
»Ihr habt eine rasche Auffassungsgabe, Eadulf«, erwiderte Fidelma lächelnd. Da legte das Boot auch schon am Kai von Dun Boi an.
Ein Krieger wollte ihnen den Zutritt zur Festung verwehren.
»Adnar weilt drüben in der Abtei, Schwester. Er ist nicht hier.«
»Ich möchte auch nicht Adnar sprechen, sondern Olcan.«
»Olcan ist unser Gefangener. Ich habe nicht die Befugnis, Euch zu ihm vorzulassen.«
Fidelma blickte ihn finster an.
»Als ddlaigh der Gerichtsbarkeit habe ich die Befugnis, mit ihm zu sprechen, das werdet Ihr doch wohl einsehen.«
Der Krieger zögerte, doch da er sah, daß sich auf ihrer Stirn ein Gewitter zusammenbraute, trat er hastig den Rückzug an.
»Hier entlang, Schwester«, murmelte er eilfertig.
Olcan war in einer Zelle im Kellergewölbe eingesperrt. Er wirkte ungepflegt und wütend.
»Schwester Fidelma! Was geht hier eigentlich vor?« rief er und sprang von seinem Strohsack auf. »Warum hält man mich hier gefangen?«
Fidelma wartete, bis der Krieger die Zelle verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, bevor sie dem jungen Mann antwortete.
»Hat Adnar Euch das nicht gesagt?«
Gulbans Sohn blickte von Fidelma zu Eadulf und breitete hilflos die Arme aus.
»Er beschuldigt mich irgendeiner Verschwörung.«
»Euer Vater Gulban hat sich heimlich mit den Ui Fidgenti verbündet, um Cashel zu stürzen.«
»Mein Vater?« stieß Olcan verbittert hervor. »Mein Vater pflegt mich nicht in seine Pläne einzuweihen. Werde ich beschuldigt, nur weil ich der Sohn meines Vaters bin?«
»Nicht deshalb. Adnar behauptet, daß Ihr und Tor-can in die Verschwörung verwickelt wart. Wollt Ihr bestreiten, von dem Komplott gewußt zu haben? Obwohl Euer Freund Torcan daran beteiligt war?«
Olcans Gesicht war von Wut verzerrt.
»Torcan weilte zu Gast bei meinem Vater. Nur auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin habe ich ihn zum Jagen und Fischen begleitet, ihm Gesellschaft geleistet und ihm jede erdenkliche Gefälligkeit erwiesen.«
»Warum seid Ihr neulich in die Abtei gekommen und habt mich ausgefragt, und warum habt Ihr danach Odar auf dem gallischen Schiff aufgesucht und auch ihm all diese Fragen gestellt?«
»Weil Torcan mich darum gebeten hat.«
Die Antwort überraschte Fidelma.
»Pflegt Ihr Torcan immer zu gehorchen, ohne eine Erklärung dafür zu verlangen, warum Ihr ihm als Laufbursche dienen sollt?«
»Nein, so war es nicht. Torcan sagte, er habe den Verdacht, daß Ihr und Ross etwas im Schilde führt ... Er meinte, Ihr hättet verhindert, daß Adnar bei der Bergung des gallischen Schiffes seinen rechtmäßigen Anteil erhielt.«
»Und das habt Ihr geglaubt?«
»Ich wußte, daß hier etwas Merkwürdiges im Gange ist, und ich wußte, daß Ihr und Ross daran beteiligt wart.«
»Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr nichts von dem geplanten Aufstand wußtet, bevor Adnar Euch hier einsperren ließ?«
»Wirklich nicht. Ich lag gestern morgen noch im Bett und schlief, als mich Adnars Männer weckten und hierherbrachten. Später tauchte er bei mir auf und erzählte, er habe Torcan getötet. Er sagte, mein Vater sowie Torcan und Eoganan von den Ui Fidgenti hätten gemeinsam ein Komplott geschmiedet, um die Macht in Cashel an sich zu reißen. Beim heiligen Kruzifix, Schwester, ich interessiere mich nicht für Machtspielchen und Herrschaftsbereiche. Ich habe nichts davon gewußt.«
Fidelma schüttelte verwundert den Kopf.
»Eure Geschichte klingt dermaßen unglaubwürdig, Olcan, daß Ihr womöglich tatsächlich die Wahrheit sagt. Ein Verschwörer, der obendrein noch zum Mörder wurde, würde sich eine sorgfältiger durchdachte Geschichte zurechtlegen.«
Eadulf sah Fidelma überrascht an. Er hatte gerade darüber sinniert, wie verdächtig sich Olcan durch seine Darstellung machte.
»Fidelma«, unterbrach er sie, »wir haben von Schwester Comnat erfahren, daß Torcan Gulbans Hauptstadt in ein Heerlager verwandelte und dort seine Männer trainierte. Wie kann es sein, daß Olcan nichts davon gewußt hat?«
»Ich habe meinen Vater seit Monaten nicht gesehen. Wir verstehen uns nicht besonders gut, das habe ich Euch doch längst erklärt.«
»Wie lange seid Ihr schon bei Adnar zu Gast?« fragte Fidelma.
»Ich bin zwei Tage vor Euch hier angekommen. Ich glaube, das habe ich Euch gegenüber bereits erwähnt.«
»Ihr wart also gar nicht hier, als die Leiche ohne Kopf gefunden wurde?«
»Nein. Auch das habe ich Euch bereits gesagt.«
»Wo wart Ihr vorher?«
»Ich weilte als Gast beim Häuptling der Duibhne.«
»Wie lange?«
»Drei Monate.«
»Wir brauchen nur jemanden zu diesem Häuptling zu schicken, um das zu überprüfen.«
»Dann schickt doch jemanden hin. Ich habe nichts zu verbergen.«
»Wann seid Ihr also in das Gebiet der Beara zurückgekehrt?«
»Einige Tage, bevor ich bei Adnar eintraf. Ich bin auf mehr oder weniger direktem Wege hierhergekommen, denn ich wußte, daß Adnar mich wesentlich freundlicher empfangen würde als mein Vater. Der hat bereits einen meiner Cousins als tdnaiste adoptiert, als seinen auserwählten Thronfolger. Ich habe keinerlei Ambitionen, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten.«